Die schwache Stelle des Systems
Auf einem Sozialgipfel in Portugal suchen die EU-Staats- und Regierungschefs nach Lösungen für durch die Coronakrise noch deutlicher gewordene Verwerfungen
In der Coronakrise haben die sozialen Probleme in den EU-Staaten eine neue Dimension erreicht. In Porto findet am Freitag und Samstag erstmals seit 2017 wieder ein EU-Sozialgipfel statt.
Auf dem EU-Sozialgipfel in der nordportugiesischen Metropole Porto werden sich die Staats- und Regierungschefs mit ihren nicht erledigten Hausaufgaben befassen, die sie sich auf dem vorangegangenen Treffen im schwedischen Göteborg aufgegeben hatten. Von der dort vereinbarten »europäischen Säule sozialer Rechte«, die auch »angemessene Mindestlöhne« und die Gleichbehandlung von Frauen und Männern enthalten soll, ist in der Praxis bis heute wenig zu sehen. Und auch von Porto ist vor allem Symbolik statt konkreter Beschlüsse zu erwarten.
Dabei brennt es in der EU: Die zur Eindämmung der Corona-Pandemie seit mehr als einem Jahr verhängten Maßnahmen haben einigen Konzernen enorme Extraprofite beschert, viele Branchen in der EU haben sie hingegen an den Rand des Ruins getrieben. Millionen Menschen in ihren Mitgliedsstaaten sind von Kurzarbeit oder Arbeitslosigkeit betroffen, erleiden Einkommenseinbußen und befinden sich in sozialer Notlage. Die Auswirkungen auf Schule und Ausbildung sind für die Bildungsgerechtigkeit verheerend. Das Gefälle von arm und reich innerhalb der EU und der Gesellschaften tritt durch die Krise noch deutlicher hervor. Ohne echte politische Lösungen gefährdet diese Entwicklung den Zusammenhalt des bereits vom Brexit angeschlagenen Staatenbundes.
Der Sozialgipfel ist das Vorzeigeprojekt der noch bis zum 30. Juni laufenden portugiesischen EU-Ratspräsidentschaft. Besonders durch den Ausfall des Tourismus ist der Sonnenstaat im Westen der iberischen Halbinsel selbst stark von den Folgen der Coronamaßnahmen betroffen. Schon vorher waren hier prekäre Arbeitsverhältnisse mit niedrigen Löhnen verbreitet, Bildung und Gesundheit unterfinanziert.
Portugals Außenminister Augusto Santos Silva zeigte sich im Vorfeld des Treffens optimistisch. Die Verhandlungen über die in Porto zu beschließenden Dokumente stünden kurz vor dem Abschluss, erklärte Santos Silva Anfang der Woche im portugiesischen Parlament. Auf dem Gipfel soll zum einen eine gemeinsame Erklärung verabschiedet werden, die die Bedeutung der sozialen Dimension für die EU unterstreicht. Mehr Gewicht als den wohlfeilen Worten dieser Deklaration kommt der angepeilten »Übereinkunft von Porto« zu, in der auf der Basis des »kleinsten gemeinsamen Nenners« der verschiedenen Interessengruppen verbindliche Ziele festgelegt werden sollen, die dann den Weg durch die EU-Instanzen nehmen. Außerdem soll, betonte der Minister, die EU-Kommission zur Umsetzung eines Aktionsplans verpflichtet werden.
Auf eine »starke politische Botschaft« des Gipfels in Porto hofft auch EU-Sozialkommissar Nicolas Schmit. Aus der Gesundheitskrise sei sehr schnell eine Wirtschaftskrise mit ernsten Folgen für Teile der Bevölkerung geworden, mahnt der luxemburgische Politiker. Porto solle, »eine breite Perspektive« zu Fragen der Sozial- und Arbeitsrechte bis 2030 eröffnen, betonte Schmit, der zugleich die Erholung der Wirtschaft im Blick hat.
Die EU-Kommission hat für diesen Zeitrahmen im März drei sozialpolitische Hauptziele zur Umsetzung der Göteborg-Beschlüsse formuliert, die Porto bekräftigen wird. Angestrebt werden EU-weit eine Beschäftigungsquote von mindestens 78 Prozent, Fortbildung für mindestens 60 Prozent der Erwachsenen jährlich und die Verringerung der Zahl der von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedrohten Menschen um mindestens 15 Millionen, darunter 5 Millionen Kinder.
Im Erklärungsentwurf für Porto will die EU zudem »vorrangig Maßnahmen zur Unterstützung junger Menschen ergreifen«, die in ihren Berufs- und Ausbildungsplänen durch die Pandemie »sehr negativ getroffen« worden und mehr Investitionen in Bildung, Qualifizierung und Umschulung anregen.
Bereits zwei Wochen vor dem Gipfel haben elf EU-Länder deutlich gemacht, dass sie sich einer echten Sozialunion verweigern. Die Niederlande, Österreich, Dänemark, Bulgarien, Estland, Finnland, Irland, Lettland, Litauen, Malta und Schweden pochen auf ihre nationale Zuständigkeit in diesem Politikfeld und das Subsidiaritätsprinzip. Mit ihrem Eintreten für die eigene Souveränität erschweren sie zugleich EU-Mindeststandards.
Taten statt Worte fordern linke Parteien und Gewerkschaften in der EU. DGB-Chef Reiner Hoffmann will, dass in Porto soziale Grundrechte »Vorfahrt« erhalten. Dafür sieht er auch eine Änderung der EU-Verträge und die Aufgabe der bisherigen Verschuldungsregeln als notwendig an. Die schwache »soziale Säule« in der Konstruktion EU kritisiert auch Portugals größter Gewerkschaftsbund CGTP, der für Samstag zu einer Großkundgebung in der schwer gesicherten Innenstadt von Porto aufruft. Auch an die eigene Regierung adressiert, fordert CGTP einen »neuen Kurs« hin zu besseren Arbeits- und Lebensbedingungen.