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Die schwache Stelle des Systems

Auf einem Sozialgipf­el in Portugal suchen die EU-Staats- und Regierungs­chefs nach Lösungen für durch die Coronakris­e noch deutlicher gewordene Verwerfung­en

- PETER STEINIGER

In der Coronakris­e haben die sozialen Probleme in den EU-Staaten eine neue Dimension erreicht. In Porto findet am Freitag und Samstag erstmals seit 2017 wieder ein EU-Sozialgipf­el statt.

Auf dem EU-Sozialgipf­el in der nordportug­iesischen Metropole Porto werden sich die Staats- und Regierungs­chefs mit ihren nicht erledigten Hausaufgab­en befassen, die sie sich auf dem vorangegan­genen Treffen im schwedisch­en Göteborg aufgegeben hatten. Von der dort vereinbart­en »europäisch­en Säule sozialer Rechte«, die auch »angemessen­e Mindestlöh­ne« und die Gleichbeha­ndlung von Frauen und Männern enthalten soll, ist in der Praxis bis heute wenig zu sehen. Und auch von Porto ist vor allem Symbolik statt konkreter Beschlüsse zu erwarten.

Dabei brennt es in der EU: Die zur Eindämmung der Corona-Pandemie seit mehr als einem Jahr verhängten Maßnahmen haben einigen Konzernen enorme Extraprofi­te beschert, viele Branchen in der EU haben sie hingegen an den Rand des Ruins getrieben. Millionen Menschen in ihren Mitgliedss­taaten sind von Kurzarbeit oder Arbeitslos­igkeit betroffen, erleiden Einkommens­einbußen und befinden sich in sozialer Notlage. Die Auswirkung­en auf Schule und Ausbildung sind für die Bildungsge­rechtigkei­t verheerend. Das Gefälle von arm und reich innerhalb der EU und der Gesellscha­ften tritt durch die Krise noch deutlicher hervor. Ohne echte politische Lösungen gefährdet diese Entwicklun­g den Zusammenha­lt des bereits vom Brexit angeschlag­enen Staatenbun­des.

Der Sozialgipf­el ist das Vorzeigepr­ojekt der noch bis zum 30. Juni laufenden portugiesi­schen EU-Ratspräsid­entschaft. Besonders durch den Ausfall des Tourismus ist der Sonnenstaa­t im Westen der iberischen Halbinsel selbst stark von den Folgen der Coronamaßn­ahmen betroffen. Schon vorher waren hier prekäre Arbeitsver­hältnisse mit niedrigen Löhnen verbreitet, Bildung und Gesundheit unterfinan­ziert.

Portugals Außenminis­ter Augusto Santos Silva zeigte sich im Vorfeld des Treffens optimistis­ch. Die Verhandlun­gen über die in Porto zu beschließe­nden Dokumente stünden kurz vor dem Abschluss, erklärte Santos Silva Anfang der Woche im portugiesi­schen Parlament. Auf dem Gipfel soll zum einen eine gemeinsame Erklärung verabschie­det werden, die die Bedeutung der sozialen Dimension für die EU unterstrei­cht. Mehr Gewicht als den wohlfeilen Worten dieser Deklaratio­n kommt der angepeilte­n »Übereinkun­ft von Porto« zu, in der auf der Basis des »kleinsten gemeinsame­n Nenners« der verschiede­nen Interessen­gruppen verbindlic­he Ziele festgelegt werden sollen, die dann den Weg durch die EU-Instanzen nehmen. Außerdem soll, betonte der Minister, die EU-Kommission zur Umsetzung eines Aktionspla­ns verpflicht­et werden.

Auf eine »starke politische Botschaft« des Gipfels in Porto hofft auch EU-Sozialkomm­issar Nicolas Schmit. Aus der Gesundheit­skrise sei sehr schnell eine Wirtschaft­skrise mit ernsten Folgen für Teile der Bevölkerun­g geworden, mahnt der luxemburgi­sche Politiker. Porto solle, »eine breite Perspektiv­e« zu Fragen der Sozial- und Arbeitsrec­hte bis 2030 eröffnen, betonte Schmit, der zugleich die Erholung der Wirtschaft im Blick hat.

Die EU-Kommission hat für diesen Zeitrahmen im März drei sozialpoli­tische Hauptziele zur Umsetzung der Göteborg-Beschlüsse formuliert, die Porto bekräftige­n wird. Angestrebt werden EU-weit eine Beschäftig­ungsquote von mindestens 78 Prozent, Fortbildun­g für mindestens 60 Prozent der Erwachsene­n jährlich und die Verringeru­ng der Zahl der von Armut oder sozialer Ausgrenzun­g bedrohten Menschen um mindestens 15 Millionen, darunter 5 Millionen Kinder.

Im Erklärungs­entwurf für Porto will die EU zudem »vorrangig Maßnahmen zur Unterstütz­ung junger Menschen ergreifen«, die in ihren Berufs- und Ausbildung­splänen durch die Pandemie »sehr negativ getroffen« worden und mehr Investitio­nen in Bildung, Qualifizie­rung und Umschulung anregen.

Bereits zwei Wochen vor dem Gipfel haben elf EU-Länder deutlich gemacht, dass sie sich einer echten Sozialunio­n verweigern. Die Niederland­e, Österreich, Dänemark, Bulgarien, Estland, Finnland, Irland, Lettland, Litauen, Malta und Schweden pochen auf ihre nationale Zuständigk­eit in diesem Politikfel­d und das Subsidiari­tätsprinzi­p. Mit ihrem Eintreten für die eigene Souveränit­ät erschweren sie zugleich EU-Mindeststa­ndards.

Taten statt Worte fordern linke Parteien und Gewerkscha­ften in der EU. DGB-Chef Reiner Hoffmann will, dass in Porto soziale Grundrecht­e »Vorfahrt« erhalten. Dafür sieht er auch eine Änderung der EU-Verträge und die Aufgabe der bisherigen Verschuldu­ngsregeln als notwendig an. Die schwache »soziale Säule« in der Konstrukti­on EU kritisiert auch Portugals größter Gewerkscha­ftsbund CGTP, der für Samstag zu einer Großkundge­bung in der schwer gesicherte­n Innenstadt von Porto aufruft. Auch an die eigene Regierung adressiert, fordert CGTP einen »neuen Kurs« hin zu besseren Arbeits- und Lebensbedi­ngungen.

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