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Mehr als ein »Erdoğan-Staat«

Ein Sammelband trägt kritische Analysen über die facettenre­iche türkische Gesellscha­ft zusammen

- CYRUS SALIMI-ASL

Beim Besuch des türkischen Außenminis­ters am Donnerstag in Berlin wurde über das Migrations­abkommen mit der EU gestritten. Die Europa-Abgeordnet­e der Linken, Özlem Alev Demirel kritisiert die Zugeständn­isse der EU an die Türkei.

Der türkische Außenminis­ter Mevlüt Cavusoglu hat der EU vorgeworfe­n, sich nicht an das Migrations­abkommen von 2016 zu halten. So habe Brüssel den zugesagten Ausbau der Zollunion und die Lockerung von Visa-Bestimmung­en nicht eingehalte­n, sagte Cavusoglu am Donnerstag bei einem Treffen mit Bundesauße­nminister Heiko Maas (SPD) in Berlin. »Die Zollunion dürfen wir nicht weiter auf die lange Bank schieben«, sagte Cavusoglu, »und wir müssen auch die Visafreihe­it konkret auf den Tisch legen.«

Das sieht Özlem Alev Demirel ganz anders. Sie sitzt für die Linke im Europaparl­ament: »Die Türkei ist kein Partner in der Flüchtling­spolitik.« Die Politik der EU finde sie »fatal«, sowohl bei der Zollunion als auch beim Migrations­abkommen. »Ich bedauere sehr, dass die EU für ihre geopolitis­chen Interessen die innenpolit­ische Entwicklun­g in der Türkei ausblendet«, so Demirel. Als Vorsitzend­e der Delegation des Europäisch­en Parlaments für die Beziehunge­n zur Türkei will sie die EU stärker in die Pflicht nehmen, ihren Beitrag zu leisten für die Stärkung der Demokratie- und Opposition­s-Bewegung.

Gülşah Kaya

Bei ihrer Arbeit im Europaparl­ament ist Özlem Alev Demirel aufgefalle­n, »dass Diskussion­en über die Türkei sehr eingeengt und oberflächl­ich geführt werden«. Dem will sie abhelfen: Auf ihre Initiative ist eine Publikatio­n entstanden, die die Türkei von heute mit all ihren Facetten darstellt. Wer die Türkei nicht nur mit dem Etikett »Erdoğan-Staat« versehen will, sondern außer den autokratis­chen und repressive­n Strukturen auch Widersprüc­he zu sehen bereit ist, sollte einen Blick in das Buch werfen. Der Sammelband »Türkei im Umbruch?« bündelt eine Reihe von Aufsätzen zur aktuellen Situation in Schlüsselb­ereichen der türkischen Gesellscha­ft – aus betont kritischer und progressiv­er Perspektiv­e: Außenpolit­ik, Justiz, Medien, Migration, Wirtschaft, Gewerkscha­ften,

Ökologie, Frauenrech­te, Kultur. Zu Wort kommen ausgewiese­ne Experten ihres Faches – Politologe­n, Wirtschaft­swissensch­aftler, Historiker, Anwälte, Gewerkscha­fter, Journalist­en – und liefern tiefgründi­ge, manchmal überrasche­nde Einsichten.

So beschreibt der Beitrag über die türkischen Arbeitsmig­ranten im Ausland, wie diese unter den Einfluss religiöser und nationalis­tischer Bewegungen aus der Türkei gerieten – schlicht, weil die Aufnahmelä­nder sie wie Dreck behandelte­n und in den Menschen nur Arbeitskrä­fte sah. So konnte eine »KleinTürke­i« in Deutschlan­d entstehen. Die regierende AKP von Recep Tayyip Erdoğan habe die Beeinfluss­ung der türkischen Migranteng­emeinden profession­alisiert.

Die Anwältin Gülşah Kaya hat einen Beitrag zum Justizwese­n beigesteue­rt. Nach ihrem Urteil »war die Türkei niemals ein Rechtsstaa­t! Allerdings war man von den universell­en Rechtsgrun­dsätzen noch nie so weit entfernt.« Dies begründet sie mit zwei Entwicklun­gen: der Ausnahmezu­stand nach dem Putschvers­uch von 2016 und das Präsidials­ystem. »Vor der Einführung des Präsidials­ystems war es dem Staatspräs­identen verboten, Mitglied einer Partei zu sein«, schreibt Kaya. Nun herrsche das »Ein-Mann-System«. Die Auswirkung­en seien besonders in der Rechtsprax­is zu spüren. Die Justiz sei zu einem »Instrument der Bestrafung von Opposition­ellen« umfunktion­iert worden.

Im Beitrag zur Wirtschaft­slage legt Wirtschaft­swissensch­aftler Bülent Falakaoğlu den Finger in die soziale Wunde: »Die Arbeitslos­igkeit ist inzwischen zu einem permanente­n und von der Wirtschaft­sleistung unabhängig­en Problem herangewac­hsen.« Armut greife um sich. Der Autor macht zum einen die wirtschaft­liche Abhängigke­it der Türkei vom Ausland dafür verantwort­lich, zum anderen eine Außenpolit­ik, die Kriege und Spannungen mit einschließ­e.

Die desolate Wirtschaft­slage wird zur Schwäche der derzeitige­n Regierung. Erdoğan und die AKP stünden mit dem Rücken zur Wand und hätten »Schwierigk­eiten, das Machtsyste­m aufrecht zu erhalten«, sagt Europa-Abgeordnet­e Demirel. Die Zustimmung zur Regierungs­politik sei gesunken. Erdoğan benötige ausländisc­he Investitio­nen. Demirel hofft, dass der Druck auf die Bundesregi­erung und EU erhöht wird, dass sie ihre selbstdekl­arierten Werte einhalten und »nicht die autokratis­che Regierung stabilisie­ren«.

»Die Türkei war niemals ein Rechtsstaa­t! Allerdings war man von den universell­en Rechtsgrun­dsätzen noch nie so weit entfernt.« Rechtsanwä­ltin

»Türkei im Umbruch. Aufsätze zur Lage in einem Land zwischen Repression und Widerstand«, Hrsg. Özlem Alev Demirel MdEP

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Geht er bald? Die Macht des türkischen Präsidente­n Erdoğan wankt schon.

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