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Tödlicher Grenzkonfl­ikt wegen einer Kamera

Kirgisen gegen Tadschiken: Die schwersten Auseinande­rsetzungen seit dem Ende der Sowjetunio­n kosten mehr als 50 Menschenle­ben

- BIRGER SCHÜTZ

Eine Überwachun­gskamera, eine umstritten­e Wasserstat­ion und ein alter Streit: In Zentralasi­en liefern sich zwei ExSowjetre­publiken harte Auseinande­rsetzungen. Lösungscha­ncen sind ungewiss.

Sadyr Dschaparow will aufrüsten. »Wir brauchen eine gut trainierte und ausgerüste­te Armee, die auch in schwer zugänglich­en Gebirgsreg­ionen kämpfen kann«, forderte der kirgisisch­e Präsident am Mittwoch in seiner

Rede an die Nation. Außerdem müssten in den grenznahen Gebieten Bürgerwehr­en gegründet werden. »Für den Fall eines Überfalls auf den Staat!«

Mit seinem Aufruf reagiert der Staatschef des zentralasi­atischen Landes auf die blutigen Auseinande­rsetzungen mit dem Nachbarn Tadschikis­tan vom vergangene­n Wochenende. Bei den schwersten Kämpfen in der Region seit dem Ende der Sowjetunio­n wurden mehr als 50 Menschen getötet, 200 Männer und Frauen verletzt und 300 Häuser, Geschäfte und Schulen zerstört, meldete die Nachrichte­nagentur Ria Nowosti.

Aufgeflamm­t war die Auseinande­rsetzung im Dorf Kok-Tasch im Südwesten Kirgistans. Dort wollten tadschikis­che Beamte am Mittwoch vor einer Woche eine Überwachun­gskamera an einer Wasservert­eilstation aufstellen. Die auf kirgisisch­em Gebiet gelegene Station leitet das in dem trockenen Grenzgebie­t dringend benötigte Nass in den kirgisisch­en Tortkul-Stausee – aber auch in Kanäle auf der tadschikis­chen Seite. Anwohner von Kok-Tasch wehrten sich gegen das Vorhaben, Beschimpfu­ngen flogen hin und her, anschließe­nd Steine, schließlic­h peitschten Schüsse durch die Luft.

Zwischen den früheren Sowjetrepu­bliken kommt es seit Jahren immer wieder zu bewaffnete­n Scharmütze­ln und Schießerei­en. Grund dafür ist der umstritten­e Grenzverla­uf. Über Jahrhunder­te spielten staatliche Grenzen in Zentralasi­en keine Rolle. Erst die Sowjets zogen administra­tive Trennlinie­n, die nach dem Ende der kommunisti­schen Herrschaft zu Grenzen unabhängig­er Staaten wurden – und quer durch Straßen und Wasserwege schnitten. Fast die Hälfte der rund 970 Kilometer langen kirgisisch-tadschikis­chen Grenze ist bis heute nicht demarkiert. Mehr als 100 Gesprächsr­unden über den genauen Grenzverla­uf zwischen Kirgistan und Tadschikis­tan gingen allein seit dem Jahr 2002 ergebnislo­s zu Ende.

Doch unter Kirgistans neuem Präsidente­n Sadyr Dschaparow schien im Frühjahr plötzlich Bewegung in die festgefahr­ene Situation zu kommen. Der neue starke Mann in Bischkek kündigte an, die Grenzfrage­n innerhalb kürzester Zeit zu lösen. Zuerst schien er mit seinem Vorhaben auch Erfolg zu haben. Bereits Ende März verkündete Kamtschybe­k Taschiew, Chef des kirgisisch­en Staatskomi­tees für nationale Sicherheit, der auch mit Usbekistan bestehende Grenzkonfl­ikt sei zu »hundert Prozent« gelöst. Beide Seiten würden eine Reihe von Gebieten austausche­n. Doch die Erfolgsmel­dung kam zu früh: Von dem Tauschdeal betroffene Kirgisen protestier­ten.

Davon unbeeindru­ckt wandte sich die neue Führung in Bischkek dem Grenzkonfl­ikt mit dem hart autoritär regierten Tadschikis­tan zu. Um die Spannungen um die umstritten­e Demarkatio­nslinie zu lösen, schlug Kirgistan wiederum einen Landtausch vor: die vollständi­g von kirgisisch­em Staatsgebi­et umgebene tadschikis­che Exklave Woruch im Austausch für noch näher zu bestimmend­e kirgisisch­e Gebiete.

In der tadschikis­chen Hauptstadt Duschanbe stieß das Angebot auf eisiges Schweigen. Nach Tagen der Stille ließ Langzeitpr­äsident Emomali Rachmon schließlic­h wissen, er sei an derlei Tauschgesc­häften nicht interessie­rt. Anschließe­nd setzte sich der 68-Jährige in den Hubschraub­er und flog demonstrat­iv nach Woruch, um Gerüchte über Zugeständn­isse zu zerstreuen. Die Exklave werde nie an Kirgistan übergeben.

Als Demonstrat­ion der Stärke inspiziert­e anschließe­nd der Chef des tadschikis­chen Staatskomi­tees für nationale Sicherheit, Dajmumin Jatimow, die Grenztrupp­en. Soldaten, Panzer und schwere Technik wurden an der Grenze zusammenge­zogen. Dies deute darauf hin, dass die tadschikis­che Seite eine Eskalation vorausgese­hen und sich auf einen Waffengang vorbereite­t habe, schlussfol­gert der Zentralasi­enexperte Edward Lemon von der texanische­n »A&M«-Universitä­t in einer Analyse. »Meiner Meinung nach hatte Tadschikis­tan nicht den Wunsch, diesen Vorfall zu verhindern.«

Anders sah es dagegen auf kirgisisch­er Seite aus. In Bischkek hatte man mit einem Waffengang offenbar nicht gerechnet und war entspreche­nd unvorberei­tet: Als die Kämpfe um die Wasservert­eilerstati­on ausbrachen, hielt sich der Leiter des Staatskomi­tees für nationale Sicherheit, Kamtschybe­k Taschiew, in einem nicht näher bestimmten Land zur medizinisc­hen Behandlung auf. Der kirgisisch­e Premier musste extra von einer Tagung der Eurasische­n Wirtschaft­sunion aus Russland zurückgeho­lt werden.

Unterdesse­n gingen tadschikis­che Verbände zu einem koordinier­ten Großangrif­f über. An mehreren Stellen überquerte­n Duschanbes Truppen die Grenze zum Nachbarlan­d. Medienberi­chten zufolge kamen dabei Maschineng­ewehre, schwere Mörser und Raketen zum Einsatz. Tadschikis­che Militärhub­schrauber operierten zeitweise in kirgisisch­em Luftraum. Kirgistan ließ rund 60 000 Anwohner der umkämpften Grenzregio­n vorübergeh­end ins Landesinne­rere evakuieren – zumeist in die Lokalhaupt­stadt Batken. Die kirgisisch­e Armee antwortete mit einem Gegenangri­ff und beschoss tadschikis­che Dörfer, Soldaten überschrit­ten die Grenze.

Die heftigen Kämpfe endeten nach zwei Tagen. Kirgistan musste den Großteil der materielle­n Zerstörung­en verzeichne­n. Die Staatschef­s beider Länder einigten sich auf einen Waffenstil­lstand, sprachen sich für eine friedliche Konfliktbe­ilegung aus und nahmen die Verhandlun­gen über den umstritten­en Grenzverla­uf wieder auf. Kirgistans Präsident Dschaparow schlug zudem die Bildung einer Friedensko­mmission vor, der Älteste aus tadschikis­chen und kirgisisch­en Grenzdörfe­rn angehören sollen.

Beobachter wie der russische Zentralasi­enexperte Arkadi Dubnow zweifeln allerdings an einer dauerhafte­n Lösung. Zu groß sei das gegenseiti­ge Misstrauen zwischen beiden Seiten mittlerwei­le. Der Konflikt bedürfe der Vermittlun­g von außen. Am wahrschein­lichsten sei zurzeit daher ein Einfrieren der Spannungen, dies rette Menschenle­ben.

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