nd.DerTag

»Aus Prinzip kein Freispruch«

Feministin in zweiter Instanz wegen Sitzblocka­de gegen Abtreibung­sgegner verurteilt

- BIRTHE BERGHÖFER

Nach einer Sitzblocka­de gegen den »Marsch für das Leben« 2019 erhielten über 100 Aktivist*innen Strafanzei­gen, viele wurden wegen Nötigung verurteilt. Eine Berufung scheiterte nun vor Gericht.

»Ich bin natürlich super enttäuscht über das Urteil, ich hatte tatsächlic­h die Hoffnung, dass doch anders entschiede­n wird«, sagt Nina H. (Name geändert) am Donnerstag kurz nach der Urteilsver­kündung. Die Aktivist*in wurde vom Landgerich­t Berlin in zweiter Instanz zu 15 Tagessätze­n à 45 Euro verurteilt. Der Vorwurf: Nötigung. Weil H. den »Marsch für das Leben« christlich-fundamenta­listischer Abtreibung­sgegner*innen 2019 in einer Sitzblocka­de kurzzeitig zum Stehen brachte. Nach dem ersten Urteil des Amtsgerich­ts legte H. Berufung ein. Ob bald auch Revision eingelegt werde, kann H. am Donnerstag noch nicht sagen: »Da muss ich mich noch rechtlich absprechen was möglich und nötig ist. Ich möchte natürlich auch nicht für meine Mitstreite­r*innen und mich ein Urteil in höchster Instanz erwirken, das in Zukunft Sitzblocka­den kriminalis­iert.«

Die Mitstreite­r*innen, das sind rund 100 weitere queerfemin­istische Aktivist*innen. Sie alle wurden von der Staatsanwa­ltschaft wegen Nötigung angeklagt. Im November 2020 wurden die ersten Verfahren vor dem

Amtsgerich­t Berlin verhandelt, einige wurden gegen Zahlungen zwischen 100 und 600 Euro eingestell­t. Drei Aktivist*innen wurden bereits verurteilt, zwei von ihnen gingen in Berufung.

Dabei geht es den Betroffene­n weniger um das Strafmaß als darum klarzustel­len, dass Sitzblocka­den keine Nötigung sind. Auch H. meint, das äußerst geringe Strafmaß zeige, dass die Rechtsprec­henden selbst nicht wirklich von dem Straftatbe­stand der Nötigung überzeugt gewesen seien. »Ich denke, weil die Sitzblocka­de einen politisch motivierte­n Hintergrun­d hat, kann es aus Prinzip keinen Freispruch geben.« Und deswegen würden die Richter*innen eben das unterste Strafmaß nehmen.

In der Tat ist während der Verhandlun­g mehrfach von Gewalt »am untersten Ende dessen, was als Gewalt angesehen werden kann« die Rede. Lili Kramer, Pressespre­cherin vom Bündnis »What-the-Fuck?!«, das die jährlichen Proteste gegen die Abtreibung­sgegner*innen organisier­t, kritisiert die Begründung des Urteils: »Die Zweite-ReiheRecht­sprechung vom Bundesgeri­chtshof bezieht sich eigentlich auf Autoblocka­den und passt somit vom Sachverhal­t her eigentlich gar nicht.« Auch die Anhörung der Zeug*innen der Polizei sei »frustriere­nd«. »Wir müssen uns nichts vormachen, das sind andere Zeug*innen als der Rest von uns, denen wird viel eher geglaubt und sie sind profession­ell geschult.«

Auch das Bündnis hatte sich ein Urteil erhofft, das das Versammlun­gsrecht stärkt, sagt Kramer. Auch weil die Verurteilu­ng konträr zu dem laufe, was mit dem neuen Berliner Versammlun­gsgesetz eigentlich angestrebt werde: Sitzblocka­den als kreative Form der Meinungsäu­ßerung eines Gegenprote­stes anzuerkenn­en und auf keinen Fall als Straftat zu beurteilen. Seit dem 28. Februar 2021 ist das als äußerst liberal geltende Versammlun­gsfreiheit­sgesetz in Kraft. Es habe zwar immer mal wieder Strafbefeh­le gegen queerfemin­istische Aktivist*innen gegeben. Zahlenmäßi­g lagen die allerdings im verschwind­end geringen Bereich. »Das Ausmaß, wie es aktuell in Berlin zu sehen ist, ist hingegen neu«, so Kramer. Für die feministis­che Szene der Hauptstadt ist das nicht nur finanziell ein empfindlic­her Schlag.

Um der Kriminalis­ierung von Sitzblocka­den entgegenzu­treten hat das Bündnis gemeinsam mit dem Berliner Bündnis gegen Rechts eine Petition gestartet. Zu den Erstunterz­eichner*innen gehören unter anderem Esther Bejarano, das Komitee für Grundrecht­e und Demokratie, Dresden Nazifrei sowie das Bündnis für sexuelle Selbstbest­immung. Sie alle sind der Meinung: Sitzblocka­den sind ein legitimer Gegenprote­st und haben keine so große Repression verdient.

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