Alles will über die Ufer treten
Zwei Mitschnitte aus dem Londoner Café Oto. Der erste ist ein Konzert der Chicagoer Band Natural Information Society, die sich für diesen Abend den britischen Saxofonisten Evan Parker auf die Bühne eingeladen hat. Es ist ein Fest. Parker kann Zirkularatmung (»der Blasende speichert einen Luftvorrat im Mundraum und trennt diesen daraufhin mit hinterer Zunge und Gaumensegel vom Rachenraum«, formuliert Wikipedia sehr hübsch) und damit das Saxofon nahezu entgrenzt und ununterbrochen spielen. Umso besser, wenn das freie Spiel in einer klaren Struktur verankert wird.
Schlagzeuger Mikel Patrick Avery fungiert als Tony-Williams-Gedenk-Metronom, Bandleader Joshua Abrams zupft am Gimbri ganz uneitel repetitive, tranceartige Bassläufe und schafft Raum für die Improvisationen Parkers und des Klarinettisten Jason Stein, die endlose, und ineinander verzahnte Läufe spielen, die sich gegenseitig hoch- und wieder runterschrauben. Drüber und drunter legt Lisa Alvarado Harmonium-Melodien. »Endlos« ist in diesem Fall positiv gemeint; der Wunsch, diese Musik möge möglichst lange andauern, wächst beim Hören von »Descension (Out of Our Constrictions)« stetig.
Bei der Verbindung von Saxofon und Bassklarinette liegen die Duette von John Coltrane und Eric Dolphy als historische Referenz nahe. Und tatsächlich schließt Parkers Spiel hier an seine frühen, maßgeblich von Coltrane beeinflussten Alben an. Nach einer guten halben Stunde zitiert er das zentrale Motiv aus »A Love Supreme« von 1965. Der Londoner Mitschnitt »Descension (Out of Our Constrictions)« schließt nun an den Coltrane eine Phase später an: eine improvisierte Musik, die über klare Strukturen zugänglich bleibt und nicht auf Abstraktion zielt, sondern auf einen emotionalen Ausdruck, dessen Basis Disziplin, Technik und Bewusstsein der Tradition sind, in der man sich verortet. Zur Technik sei noch einmal Wikipedia zitiert: »Sobald der Einatmungsvorgang abgeschlossen ist, kann wieder ganz normal ausgeatmet/geblasen werden, ohne neu anzublasen, und der Vorgang wiederholt sich.« Im Ergebnis ist »Descension (Out of Our Constrictions)« ein wunderschönes Stück JazzPost-Irgendwas.
Das zweite im Café Oto aufgenommene Album ist »Some Good News«, ein Mitschnitt zweier Konzertabende mit William Parker (nicht mit Evan Parker verwandt) am Bass und an indischen und afrikanischen Instrumenten, Schlagzeuger Hamid Drake, der Sängerin Elaine Mitchener und dem Free-Jazz-Duo Black Top (Pat Thomas, iPad und Klavier, und Orphy Robinson, Synthesizer und Elektronik). Alles will über die Ufer treten, die Musik vermittelt den Eindruck, dass hier fünf Musiker*innen souverän aus der Fülle schöpfen: Improvisation, dadaistische Lautmalerei mit der Stimme, Melodie, Groove, Songs, Jazz, Funk, Reggae.
Melodie und Groove, die man in der improvisierten Musik selten oder meist nur in Spuren oder als Vorlage für anschließende Dekonstruktion zu hören bekommt, sind im Überfluss präsent. Die Register, Atmosphären und Genres, die diese zwei jeweils knapp eine Stunde langen Stücke durchlaufen, sind zahlreich.
Die traumwandlerische Sicherheit, mit der sich hier alle fünf Musiker in das Spiel und den Gesang der anderen fügen, lässt beide Abende und vor allem die Musik des ersten, unter dem Titel »Put the Brakes on« veröffentlichten, als rundum geglückte Übungen in spontaner Komposition erscheinen. Hier ist nichts mehr Fragment oder Versuch. Sondern spontan entstandene und vollendete und trotzdem lebendige Musik.
Natural Information Society with Evan Parker: »Descension (Out of Our Constrictions)« (Aguirre Records)
Black Top presents: Hamid Drake/Elaine Mitchener/William Parker/Orphy Robinson/Pat Thomas: »Some Good News« (Otoroku/Cargo)