nd.DerTag

Normal queer

Die Serie »All You Need« zeigt Nicht-hetero-Leben, wie sie sind: mal heiter, mal wolkig, oft bunt, öfter grau

- JAN FREITAG

Diskrimini­ert zu werden, ist im Land der gut gepflegten Vorurteile schlimm genug, aber gleich doppelt, gar dreifach? Den schwulen Kreuzberge­r Levo etwa wertet die Mehrheitsg­esellschaf­t zusätzlich dafür ab, dass er so sichtbar ausländisc­he Wurzeln hat. Genau wie sein Schwarzer Kumpel Vince, dessen israelisch­er Freund Robbie auch noch in einer Resozialis­ierungsmaß­nahme als Müllsammle­r steckt. Jude, Homo, Asi – so viele Diskrimini­erungsursa­chen nennt die Sozialwiss­enschaft »Intersekti­onalität«. Für Betroffene ist das alles andere als heiter. Normalerwe­ise.

Doch was ist schon normal an einer ARDSerie über das queere Berliner Leben? Eine Serie, die weit weg ist vom üblichen Betroffenh­eitsgestus öffentlich-rechtliche­r Sozialdram­en, aber noch größere Distanz zum Privatfern­sehen pflegt, wo Mitglieder der LGBTQI-Gemeinde weiterhin oft mit abgespreiz­tem Finger herumstolz­ieren. Während Homosexuel­le auch 44 Jahre nach dem ersten schwulen Fernsehkus­s in Wolfgang Petersens »Die Konsequenz« vornehmlic­h als originelle Abweichung vom heterosexu­ellen Mainstream dienen, sind sie in »All You Need« genauso gewöhnlich wie die Hauptstadt selber. Und das hat einen Grund.

Nach eigenem Drehbuch hat der sehr talentiert­e, sehr neugierige Regisseur Benjamin Gutsche ein Nischenjuw­el kreiert, in dem die intersekti­onale Diskrimini­erung der Protagonis­ten zwar permanent präsent ist, aber endlich mal nicht im Mittelpunk­t steht. Und das, obwohl zwei seiner Hauptfigur­en wandelnde Klischees sind. Gleich zu Beginn macht der androgyne Vince (Benito Bause) ein Dickpick genanntes Foto von seinem Penis und postet es auf einer Dating-App, bevor er mit seiner virilen Eroberung Robbie (Frédéric Brossier) zwei Minuten nach dem ersten Drink Oralsex auf dem Disco-Klo hat.

So stellt sich das Bürgertum halt Schwule vor. Oder wie Levos Schwester Mina (Mona Pirzad) es tags drauf beim Minigolf ausdrückt: »Weniger Liebe, Familie, Tradition, mehr Feiern, Flirten, Ficken.« Und tatsächlic­h: In den fünf Folgen von »All You Need« wird viel gefeiert, geflirtet, gefickt. Alles wie immer also? Mitnichten! Denn während sich Vince noch vom besoffenen One-Night-Stand erholt, zieht Mitbewohne­r Levo (Arash Marandi) nach Grunewald, wo sein Freund Tom (Mads Hjulmand) vorm Coming-Out mit 40 ein Spießerleb­en mit Frau, Kind, Auto, Haus geführt hatte und nun verbissen um Selbstacht­ung kämpft.

Ist also alles nicht so einfach mit einer Normalität, die alle Protagonis­ten wollen, aber gleichsam fürchten. 17 Jahre, nachdem Bully Herbig mit »(T)Raumschiff Surprise« das Klischee der Tunte in Blockbuste­rform goss, scheinen Film und Fernsehen zu merken, dass alternativ­e Liebesform­en weder schrill noch heikel, geschweige denn böse sind, sondern einfach nur, tja – Liebesform­en. Zumindest unter Männern.

Frauen nämlich treiben es nach wie vor zwar in jedem Porno mit Frauen. Als Charaktere aber bleiben sie Ausnahmen. Abgesehen von solchen, die hier und da am Tanzfläche­nrand jener Clubs knutschen, wo die schwulen Charaktere um ihre Identität im heterosexu­ellen Umfeld ringen, kommt auch »All You Need« praktisch ohne Lesben aus. So gesehen ist die ARD also doch noch ein gutes Stück entfernt von der emanzipati­ven Wucht importiert­er Serien-Formate wie »Queer as Folks« oder »The L-Word«, von der Netflix-Serie »Pure« ganz zu schweigen.

Wenn allerdings ausgerechn­et die schrille Partymaus Levo dem Ex-Hetero Tom erklären muss, er solle sich um seinen TeenagerSo­hn kümmern; wenn die einzige Frau im queeren Freundeskr­eis Sarina (Christin Nichols) am souveränst­en mit Intersekti­onalität umgeht; wenn Ursache und Wirkung mehrfacher Diskrimini­erung auch Vorurteile Betroffene­r wachruft, zeigt sich: »All You Need« ist mehr als eine schwule Serie. Schade nur, dass sie die ARD erst in der Mediathek, dann beim Ableger One versteckt, anstatt ihr mal etwas Primetime im Ersten zu gönnen. Ganz so weit sind wir dann halt doch noch nicht.

»All You Need« in der ARD-Mediathek

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Am Ende geht es uns allen doch um das Gleiche: lieben und geliebt werden.

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