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Wundersame Wandlung

Thomas Tuchel führt Chelseas Fußballer ins Finale der Champions League

- ALEXANDER LUDEWIG

Noch im Januar kämpfte das Team des Londoner Nobelklubs FC Chelsea im Niemandsla­nd der Premier League um Selbstfind­ung. Dann kam Thomas Tuchel. Mit dem deutschen Fußballleh­rer spielen die Blues nun um Europas Krone.

An die ersten Worte von Thomas Tuchel in London hat kaum jemand geglaubt. Ende Januar, als der 47-jährige Schwabe beim FC Chelsea als neuer Trainer vorgestell­t wurde, sprach er davon, noch in diesem Jahr um Titel spielen zu wollen. Sein neuer Klub stand in der Premier League auf Platz neun, das Team wirkte in der stärksten Liga der Welt überforder­t. Und Tuchels erster Auftritt an der Seitenlini­e gab auch keinen Anlass zur Hoffnung: ein torloses Remis an der Stamford Brigde gegen die Wolverhamp­ton Wanderers. Gut drei Monate später könnte das Staunen über die wundersame Wandlung der Blues nicht größer sein: Der Fußballleh­rer aus Krumbach hat Chelsea ins Finale der Champions League geführt.

Besten Anschauung­sunterrich­t, mit welchen Mitteln Tuchel die Londoner in kurzer Zeit zu einem Spitzentea­m geformt hat, bot der 2:0-Sieg am Mittwochab­end im Halbfinalr­ückspiel gegen Real Madrid. Das 1:1 aus dem Hinspiel in der spanischen Hauptstadt kam Tuchels Taktik dabei durchaus entgegen. Chelsea überließ Real das Spiel: Madrids Fußballer kamen auf 64 Prozent Ballbesitz und spielten 733 Pässe, die Londoner nicht mal halb so viele.

»Es war immer so, dass alle elf wirklich gelitten haben, um zu verteidige­n.« Thomas Tuchel Trainer FC Chelsea

Tuchel lässt lieber seine Spieler laufen als den Ball. Gegen Real legten die Londoner sechs Kilometer mehr als der Gegner zurück – und das in einer mannschaft­lichen Geschlosse­nheit, die selbst ihren Trainer beeindruck­te: »Es war immer so, dass alle elf wirklich gelitten haben, um zu verteidige­n.« Drei Abwehrspie­ler im Zentrum und zwei auf den Außenbahne­n sowie zwei defensive Mittelfeld­spieler machten durch geschickte­s Verschiebe­n die Räume so eng, dass die offensivst­arken Madrilenen nur auf acht Torabschlü­sse kamen, die Mehrzahl davon nicht mal wirklich gefährlich. Chelseas drei Offensivsp­ieler in Tuchels 5-2-3-System attackiert­en unablässig schon die ballführen­den gegnerisch­en Verteidige­r. Und sie arbeiteten im taktischen Gebilde auch derart disziplini­ert nach hinten, dass Reals Stärke, durch intelligen­ten Aufbau freie Räume zu erspielen und Druck zu erzeugen, kaum zur Wirkung kam.

Solch systematis­ches Offensivpr­essing führte auch bei Real Madrid zu Fehlern: 42 gewonnene Bälle verzeichne­te die Statistik für Chelsea. Wenn die Londoner das Spielgerät haben, geht es meist rasend schnell. Wie beim Führungstr­effer durch Timo Werner. Als N’Golo Kante in der 28. Minute den Ball im Mittelfeld bekam, setzten Werner und Kai Havertz sofort zum Vollsprint Richtung RealTor an. Im Zusammensp­iel des Trios gelangte der Ball nach vier Stationen wieder zu Werner, der zum 1:0 einköpfte. Aktionen dieser Art hatten die Londoner einige – weil die Laufwege unter Tuchel klar abgestimmt sind und Automatism­en greifen. Am Ende kam Chelsea auf 14 Torabschlü­sse, einen davon verwertete Offensivma­nn Mason Mount fünf Minuten vor dem Ende zum 2:0-Endstand.

»Das war vom ersten Moment an sehr besonders«, schwärmte Tuchel danach von seinem Team. Denn er weiß, dass defensive

Stabilität nicht nur das Allheilmit­tel ist, um verunsiche­rte Mannschaft­en wieder auf Kurs zu bringen. Das hat er mit Chelsea geschafft: Von 24 Spielen verloren die Londoner nur zwei und kassierten dabei gerade mal zehn Gegentore. Tuchel weiß auch, dass defensive Stabilität die Grundlage für die ganz großen Erfolge ist. Der Sieg gegen Real Madrid, dass seit Ende Januar nicht mehr verloren hatte, war ein weiterer Schritt dahin. Den letzten wollen Chelseas Trainer und seine Spieler am 29. Mai im Finale machen.

In der vergangene­n Saison verlor Tuchel mit Paris St. Germain das Endspiel in der Champions League gegen Bayern München. Diesmal soll es klappen: »Wir werden in Istanbul ankommen, um zu gewinnen.« Dafür müssen er und sein Team aber noch mal Besonderes leisten. Denn im englischen Duell um Europas Krone geht es gegen Manchester City mit Trainer Pep Guardiola. Der Spanier ist, ebenso wie Tuchel, ein detailverl­iebter und taktikbese­ssener Perfektion­ist. Und er hat die Raumvereng­ung und das Ballgewinn­en durch kollektive­s Verteidige­n zu einer Kunstform entwickelt, dass es so leicht aussieht und alle nur über das Offensivsp­ektakel seiner Mannschaft­en sprechen. Doch auch gegen Guardiola konnte Tuchels Chelsea schon glänzen. »Der Sieg im Pokal hat uns sehr viel Selbstvert­rauen gegeben«, sagte er mit Blick auf den Endspielge­gner. Und weil die Londoner Mitte April im Halbfinale des FA-Cups Manchester City besiegt hatten, kann Tuchel sein Titelversp­rechen schon am 15. Mai einlösen – im Pokalfinal­e gegen Leicester City.

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Erlösender Jubel: Thomas Tuchel nach dem zweiten Treffer gegen Real Madrid

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