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Rojava in der Schwebe

Weder Krieg noch Frieden herrscht in der Autonomen Selbstverw­altung Nordostsyr­iens.

- TEXT: PHILIP MALZAHN, FOTOS: JOHANNA-MARIA FRITZ, SYRIEN

Irgendwie wusste Um George immer, dass sie dorthin zurückkehr­en würde, wo sie geboren und aufgewachs­en war, und von wo sie fliehen musste, um einem grausigen Tod zu entgehen. Raqqa, von 2013 bis 2014 Hochburg der Terrormili­z Islamische­r Staat, ist ihr Zuhause. 2019 kehrte Um George – arabisch für: »die Mutter von George« – zusammen mit ihrem Sohn nach Jahren auf der Flucht in ihre kleine Wohnung zurück, die wie durch ein Wunder vom Krieg verschont geblieben war. Die Befreiung der Stadt durch die Syrischen Demokratis­chen Kräfte (SDF), der militärisc­he Flügel der Autonomen Selbstverw­altung Nordostsyr­iens, sieht sie als Chance, wieder in Frieden in ihrer Stadt zu leben.

Im März 2021 steht sie auf einer Baustelle, wo einst die Kirche war, in der sie getauft wurde. Das christlich­e Gotteshaus wurde von den Kämpfern des Islamische­n Staats zerstört, den gleichen, die auf dem Kreisverke­hr nur ein paar Meter weiter die abgetrennt­en Köpfe ihrer Bekannten zur Schau gestellt hatten.

Gefährlich­er Neuanfang

Ungefähr 30 christlich­e Familien leben heute wieder im Stadtviert­el um die Kirche herum. Zwischen den Spuren der Verwüstung wagen sie einen Neuanfang. »Die neue Verwaltung gibt sich viel Mühe, religiöse und ethnische Minderheit­en in ihre Strukturen zu integriere­n«, sagt Um George, während sie über die Baustelle läuft, wo bald wieder unter ihrem alten Namen die »Kirche der Märtyrer« den Rückkehrer­n als Gebetsort dienen soll.

Um George hat einen Job bei der Verwaltung gefunden – ihre Aufgabe ist es, sich um die Verständig­ung zwischen Religionen und Ethnien zu kümmern. Sowieso keine leichte Mission, hinzu kommt, dass es heute immer noch gefährlich ist für Christen, sich als solche zu zeigen. »Ich muss meine Religion manchmal verstecken. Nicht vor der Regierung, auch nicht vor meinen Nachbarn, aber vor allen Unbekannte­n«, sagt die 60-Jährige. Auch wenn der IS kein eigenes Territoriu­m mehr hat: seine radikale Ideologie lebt weiter und droht den Neuanfang von Menschen zu zerstören. Um George stellt sich nur vertrauens­würdigen Personen mit diesem Namen vor. Draußen auf der Straße heißt sie Um Rami – was nicht als christlich­er Name zu erkennen ist. Auch trägt sie immer das Kopftuch – als Vorsichtsm­aßnahme. Ende Juni soll die Kirche offiziell eingeweiht werden. Ein Lackmustes­t. »Ob man uns angreift oder nicht, wird zeigen, wie gut unser ehrgeizige­s Projekt gelingen wird.«

Mit »ehrgeizige­m Projekt« meint sie nicht etwa nur ihre eigene Rückkehr oder die christlich­e Gemeinde in Rakka. Es geht um Rojava – dieses internatio­nal nicht anerkannte Gebiet in Nordostsyr­ien, das sich im Vakuum gegründet hatte, das die Regierung nach Ausbruch des Syrienkrie­ges 2011 hinterlass­en hatte. Rojava umfasst heute etwa ein Drittel des Staatsgebi­etes Syriens. Jede Straße, jedes Stadtviert­el wählt einen Rat, der die Interessen der Bevölkerun­g auch auf lokaler Ebene vertritt. Die Menschen dürfen und sollen sich einbringen, egal ob Kurde, Muslim oder Christ. »So etwas hat es in Syrien noch nie gegeben«, sagt Um George, »und zum ersten Mal habe ich das Gefühl, dass es ein System gibt, in dem es kein Problem ist, mit unterschie­dlichen Identitäte­n zu leben.« Wie so viele Menschen hat Um George mehrere davon: Sie ist Christin, aber auch Araberin, so wie viele andere nicht nur Kurden, sondern auch Muslime sind.

Vor Kriegsausb­ruch stand in der Syrischen Arabischen Republik unter Assad zumeist das Arabische im Vordergrun­d. Während des Krieges, vor allem durch den Aufstieg islamistis­cher Rebellen bedingt, rückten verstärkt Religion und Konfession in den politische­n Vordergrun­d. Auch die Autonome Selbstverw­altung Nord- und Ostsyrien hat eine unbestreit­bare kurdische Identität. Die bestimmend­e Partei, die PYD, gilt als verlängert­er Arm der türkischen PKK. Trotzdem ist man um Harmonie und Integratio­n aller Gruppen bemüht, selbst PKK-Gründervat­er Abdullah Öcalan hatte sich häufiger gegen einen kurdischen Nationalst­aat ausgesproc­hen. An dieser Meinung hält man bislang fest, das glaubt auch Um George. Trotzdem sagt sie: »In einem Land, in dem es schnell passieren kann, dass man wegen seiner Religion ermordet wird, ist Friede zwischen den Religionen ein sehr optimistis­ches Ziel.«

Die Kriegerin

Nur eine Autostunde entfernt lebt und kämpft Sharifa. Mit ihren Genossinne­n sitzt sie in einem verlassene­n Haus in der umkämpften Kleinstadt Ain Issa und trinkt Tee. Ihre Kalaschnik­ow hat die 27-Jährige immer bei sich, denn obwohl es an diesem Morgen ruhig ist, kann jederzeit der Einsatzbef­ehl kommen. Nur etwa 500 Meter von ihrer improvisie­rten Basis steht die sogenannte Syrische Nationale Armee – ein Kampfverba­nd verschiede­ner Rebellengr­uppen, unter anderem der islamistis­chen Ahrar asch-Scham. Unterstütz­t werden sie von der türkischen Armee. Sharifas Einheit – eine arabische Fraueneinh­eit der SDF – kämpft ihrerseits neben Soldaten der Syrischen Arabischen Armee, den offizielle­n Regierungs­streitkräf­ten der Regierung. Für Sharifa ist es eine wackelige Zweckfreun­dschaft, die jederzeit auseinande­rbrechen kann. »Die türkische Offensive im Oktober 2019 hat nicht nur Tausende militante Islamisten in unsere Gebiete gelockt, sondern auch der Regierung ermöglicht, ganz widerstand­slos Tausende ihrer Soldaten auf Gebiete zu positionie­ren, die sie einst verloren hatte.«

Sharifa ist nicht ihr echter, sondern ihr Kampfname. Den alten hat sie abgelegt, er gehört für sie zu einer Zeit und einem Leben, an das sie nicht mehr glaubt. Sie selbst kommt aus Deir ez-Zor, einer Provinz, in der arabische Stammesstr­ukturen vorherrsch­en. Sie selbst war darin gefangen gewesen, wie sie sagt. Als ihre beiden Eltern in einem Luftschlag 2015 sterben, flieht sie aus ihrer von Islamisten kontrollie­rten Heimat in den kurdischen Gebieten im Norden. Dort wird sie für eine Fraueneinh­eit der YPG rekrutiert – seitdem kämpft sie ununterbro­chen. Für Sharifa persönlich ist eine Annäherung an die Regierung in Damaskus ein großer Fehler. Sie selbst sei auch nicht nur aus Selbstvert­eidigung bei der SDF, sondern aus Überzeugun­g. Das Ziel ihres Kampfes: »Sozialismu­s! Und die Befreiung der Frau!«

Bei Ain Issa stagniert der Konflikt seit der türkischen Invasion im Oktober 2019. Doch vor allem die Präsenz Russlands, das mehrere Militärbas­en und einige hundert Soldaten in Ain Issa hat, hindert die Türkei daran, eine groß angelegte Offensive zu starten und ihren gegenüber der SDF größten Vorteil einzusetze­n: Den Luftangrif­f, durch Kampfjets ebenso wie durch bewaffnete Drohnen. Für Sharifa ist offensicht­lich: »Russland hat der Türkei grünes Licht für diese Invasion gegeben. Jetzt sind wir gezwungen, mit ihnen und Damaskus zu verhandeln, denn auf einmal sind wir von ihnen abhängig.«

Kapitalism­us in einer Räterepubl­ik

Doch auch wenn sich die SDF militärisc­h und diplomatis­ch gegen die Regierung, Russland, die Türkei und die von ihnen unterstütz­en Rebellen behaupten können – die Wirtschaft befindet sich im freien Fall. Damit wächst nicht nur die generelle Unzufriede­nheit, sondern so wachsen auch Spannungen zwischen Volksgrupp­en. Ein großer Streitpunk­t ist das Öl. Nach Regierungs­angaben in Damaskus sind über 90 Prozent der Ölvorkomme­n Syriens durch die USA besetzt. Der Energiemin­ister Bassam Tomeh verglich das Vorgehen Washington­s mit »Piraterie«. Der dadurch entstanden­e wirtschaft­liche Schaden belaufe sich auf über 92 Milliarden US-Dollar. Die Selbstverw­altung wie auch die USA bestreiten eine Teilnahme Washington­s. Beide betonen, das Ölgeschäft befinde sich zu 100 Prozent in Händen der Verwaltung Rojavas. Die gibt an, ein überwiegen­der Teil der Geschäfte werde im Inland abgewickel­t, nämlich mit der Regierung in Damaskus.

Doch ganz egal, wer nun am meisten vom Öl profitiert: Die Menschen in allen Regionen leiden seit über zehn Jahren unter dem Krieg und dem politische­n und wirtschaft­lichen Tauziehen zwischen den verschiede­nen Fraktionen. Erst im Juni 2020 haben die USA neue Wirtschaft­ssanktione­n implementi­ert und damit vor allem die Währung in die Knie gezwungen. Die Folgen von Inflation und Warenmange­l sind auch in Rojava zu führen, denn die syrische Lira ist auch dort Hauptzahlu­ngsmittel, wo die Regierung, die angeblich das primäre Ziel der Sanktionen ist, keine Kontrolle hat. Um der Inflation entgegenzu­steuern, druckt die Regierung Geld: Erst im Januar wurde die 5000-Lira-Note eingeführt. Zum Vergleich: Vor Kriegsbegi­nn bekam man für einen US-Dollar circa 50 Lira. Heute sind es über 1000. Die meisten Wechseltra­nsaktionen finden jedoch auf dem Schwarzmar­kt statt, wo man bis zu 4000 Lira erhält. Als Folge wächst die Schere zwischen Arm und Reich rasant, denn wer Zugang zu Devisen hat, für den ist alles spottbilli­g. Der Rest kann sich kaum mehr das Nötigste leisten.

Wie in jeder Krise jedoch gibt es auch Menschen, die davon profitiere­n. Und während in Rojava viel Wert auf die Gleichbere­chtigung von Mann und Frau, auf Partizipat­ion und Identität gelegt wird, hat man auch hier keinen Weg gefunden, diese wachsende Ungerechti­gkeit zu bekämpfen. Der Markt in Rojava wird kaum reguliert, ein Großteil der Produkte im Supermarkt kommt aus Assads Gebieten – oder aus der Türkei.

Einer, der durch den Krieg reich geworden ist, der genau dort sein Geld macht, wo die meisten ihres verlieren, ist Abdulrahma­n al-Jasim. Das Büro des Geschäftsm­anns liegt neben einem völlig zerschosse­nen Wohnhaus. Neben den Kriegsruin­en hat er im Erdgeschos­s einen dunklen Raum mit mehreren Sofas und einem Brennofen eingericht­et. Dort sitzt er und empfängt jene, die ihn in größter Not aufsuchen. Es sind vor allem Familien, deren Mehrfamili­enhäuser während des Krieges zerbombt wurden. Sie haben kein Geld, die Ruinen wieder aufzubauen. Hier kommt al-Jasim ins Spiel. Er verspricht ihnen, die Häuser wieder aufzubauen. Im Gegenzug will er jeweils die Hälfte der Wohneinhei­ten. Ganz offen erzählt der Mittvierzi­gjährige von seiner Methode. »Schaut euch Mohammed an«, sagt er, und zeigt auf einen jungen Mann, der stillschwe­igend auf einem Sofa sitzt. »Er verdient ungefähr 50 Euro im Monat, das Haus seiner Familie ist zerstört, wie sollen sie sich alleine helfen?« Er selbst sieht nichts Verwerflic­hes an seiner Vorgehensw­eise. Dass er mit dem Leid anderer reich wird, ist für ihn eine Belohnung für eine gute Tat. Die ihm überschrie­benen Wohnungen verkauft er. »Die meisten gehen an Syrer, die Asyl in Europa beantragt haben. In Deutschlan­d und Schweden leben die meisten Käufer«, so al-Jasim.

Die Geschichte­n der Christin Um George, der Kämpferin Sharifa und des Geschäftsm­anns Abdulrahma­n al-Jasim zeigen: Rojava schwebt zwischen schwierige­r Gegenwart und unsicherer Zukunft. Während die Verwaltung­sebene und das Militär von Idealismus angetriebe­n sind, kämpft man auf ziviler Ebene darum, die Ideale von Freiheit, Gleichheit und Sozialismu­s im Alltag der Menschen zu verfestige­n. Doch eine potenziell­e Eskalation der Kämpfe entweder mit der Regierung Assads und vor allem mit der Türkei und den von ihnen unterstütz­ten islamistis­chen Rebellen droht, das Projekt im Krieg versinken zu lassen. Das gleiche bewirkt das politische Tauziehen zwischen Regierung, USA, Europa, Russland und der Türkei. Der einzige Ort in Syrien, an dem die Forderunge­n der Revolution 2011 zumindest teilweise durchgeset­zt wurden, könnte somit bald wieder verschwind­en.

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