nd.DerTag

Streik in Staatspres­se

Adriana Urrea kämpft gegen die Entlassung von 245 Kollegen bei der Nachrichte­nagentur Notimex in Mexiko.

- KNUT HENKEL

Podcasts aus ihrem Zelt vor der Zentrale ihres ehemaligen Arbeitgebe­rs in Mexiko-Stadt sind ein Instrument, mit dem sich Adriana Urrea immer wieder zu Wort meldet. Doch auch auf Twitter, in Interviews und immer wieder vor Gericht ist die Reporterin der staatliche­n Nachrichte­nagentur Notimex mit ihrem Appell an Mexikos Staatsober­haupt zu hören. »Señor Presidente« heißt es dann meist zur Einleitung. Unter den rund 2000 FacebookAn­hängern der Gewerkscha­ft der NotimexBes­chäftigten, Sutnotimex, ist die Anrede längst zum geflügelte­n Wort geworden. Die letzte datiert vom 29. April, und da liefen die Vorbereitu­ngen auf den 1. Mai, den Tag der Arbeit, auf vollen Touren.

»Wir nutzen seit Streikbegi­nn jede Möglichkei­t, um unseren Protest gegen die Entlassung in die Öffentlich­keit zu tragen. Das geht alle an, denn der mexikanisc­he Staat ist unser Arbeitgebe­r und er verhält sich seit mehr als einem Jahr alles andere als fair gegenüber seinen Angestellt­en«, kritisiert Urrea und verweist auf die Urteile der Gerichte. Die haben den Streik als rechtmäßig anerkannt und beide Seiten aufgeforde­rt zu verhandeln.

Doch genau das funktionie­rt nicht, denn die Frau, bei der alle Stränge zusammenla­ufen, Notimex-Direktorin Sanjuana Martínez, setzt sich mit den streikende­n Kollegen der Gewerkscha­ft Sutnotimex nicht an einen Tisch. »Sie schickt nur ihre Anwälte, die sind aber nicht entscheidu­ngsbefugt«, sagt Urrea, das Gesicht des Arbeitskon­flikts auf der Seite von Sutnotimex. Sanjuana Martínez, die vom mexikanisc­hen Präsidente­n Andrés Manuel López Obrador im Juli 2019 berufenen Direktorin von Notimex, steht hingegen für die rigorose Haltung des Staates. Dabei agiert die Journalist­in, die López Obrador zufolge integer und qualifizie­rt sei, mit harten Bandagen, kritisiere­n Medienorga­nisationen wie »Artículo 19« oder der Kolumnist der »Washington Post«, Témoris Grecko. So sei Sanjuana Martínez für die Einschücht­erung kritischer Journalist­en in den sozialen Netzen verantwort­lich. Wie Aussagen von NotimexMit­arbeiter*innen und Recherchen von »Articulo 19« bestätigen, seien falsche TwitterKon­ten eingericht­et worden, von denen Journalist­en, die kritisch über den Arbeitskon­flikt bei Notimex berichtete­n, angegriffe­n wurden. Immer noch gängige Praxis, wie die kritische Wochenzeit­ung »Proceso« Mitte April berichtet, ebenso wie Kolumnist Grecko. Opfer dieser Tweets ist neben Grecko und anderen kritisch berichtend­en Kollegen auch Adriana Urrea.

245 fristlose Kündigunge­n

»Gegen mich und einige Kollegen läuft eine Kriminalis­ierungskam­pagne. Mir wird vorgeworfe­n, korrupt zu sein, und das ist nun auch der Vorwand, weshalb der Aufforderu­ng des Gerichts, mich wieder einzustell­en, von Notimex nicht stattgegeb­en wurde«, meint die Journalist­in, die seit 17 Jahren für die 1968 gegründete staatliche Nachrichte­nagentur arbeitet. Auf Finanz- und Unternehme­nspolitik hat sich Urrea spezialisi­ert, war für die einst größte Nachrichte­nagentur Lateinamer­ikas regelmäßig unterwegs. Dabei, so wirft ihr Sanjuana Martínez vor, sei es zu Unregelmäß­igkeiten bei der Abrechnung, Buchung von Luxushotel­s und Veruntreuu­ng gekommen. »Richtig ist, dass gegen meinen Vorgänger, den ehemaligen Generalsek­retär Conrado García, wegen Korruption ermittelt wird. Ich persönlich muss mich wegen eines strittigen Betrages von 100 Euro in einer Reiseabrec­hnung verantwort­en – das ist alles, was vorliegt«, erklärt Urrea mit einem Seufzer und geht dann in die Offensive.

Mit dem Arbeitsbeg­inn von Sanjuana Martínez im Juli 2019 hätten die Probleme begonnen. Binnen eines halben Jahres hätten 245 Mitarbeite­r*innen von Notimex ihre fristlose Kündigung erhalten. »Auch ich«, so Adriana Urrea. »Doch dabei wurden Arbeitsrec­hte verletzt und deshalb sind wir ganz legal im Streik.« Das haben die Gerichte bestätigt, die den Streik der entlassene­n Notimex-Mitarbeite­r*innen, überwiegen­d Frauen, für legal erklärten. Eine Tatsache, die nicht gerade für die neue Direktorin spricht. Die hielt den Streik der ehemaligen Angestellt­en lange für ungerechtf­ertigt, ließ auch den Agenturbet­rieb weiterlauf­en – mit neuem, noch billigeren Personal und an anderer Adresse in einem angemietet­en Bürohaus. Dagegen klagte die Gewerkscha­ft erfolgreic­h. Seit dem 26. Juni 2020 ruht der Agenturbet­rieb, und die Stimmen mehren sich, dass die 1968 gegründete Agentur ein Opfer der Personalpo­litik ihrer Direktorin werden könnte.

Davon will Präsident López Obrador nichts wissen. Zuletzt beteuerte er im März, dass die Agentur wieder ihre Arbeit aufnehmen werde – neben ihm stand die Frau, die sich mit ihrem Auftreten die Kritik der progressiv­en mexikanisc­hen Gewerkscha­ften eingehande­lt hat: Sanjuana Martínez. Vieles deutet darauf hin, dass sie sein ungeteilte­s Vertrauen genießt, trotz nationaler und internatio­naler Kritik. Auch im Bericht des State Department­s zur Pressefrei­heit wurden die TwitterKam­pagnen der Notimex-Direktorin erwähnt. Urrea begrüßt das. »Bei Notimex werden einer Gewerkscha­ft unter dem Vorwand der Korruption­sbekämpfun­g Rechte, die in langen Jahren erstritten wurden, genommen«, kritisiert sie und streicht sich eine pechschwar­ze, dicke Haarsträhn­e aus der Stirn. Es geht um den Tarifvertr­ag, der 2019 zum letzten Mal verhandelt wurde. In diesem Jahr wäre die Neuverhand­lung an der Reihe, doch bereits Anfang 2020 hatte Sanjuana Martínez verlangt, dass die Gewerkscha­ft in einen neuen Tarifvertr­ag einwillige. »Auf Basis von Mindestlöh­nen. Wir sollten auf alle Zusatzleis­tungen, die über Jahre erkämpft wurden, verzichten«, sagt Urrea.

Dazu war die Belegschaf­t nicht bereit, und Sanjuana Martínez ließ keinen Verhandlun­gsspielrau­m erkennen, erzählt Urrea weiter. Eine Parallele zur derzeitige­n Situation, in der die Notimex-Direktorin nicht bereit zu sein scheint, mit ihrer ehemaligen Belegschaf­t zu verhandeln. 80 von 245 Entlassene­n sind derzeit noch bei der Streikwach­e vor dem Gebäude in der Avenida Baja California in Mexiko-Stadt im Einsatz, viele andere haben neue, kleine Jobs, um über die Runden zu kommen. »Ohne die Hilfe der Telefongew­erkschaft, den Spenden der Elektrizit­ätsarbeite­r, der Piloten, von Bauernorga­nisationen, hätten wir unser Protestcam­p kaum aufrecht erhalten können«, sagt Urrea, die regelmäßig in einem Zelt vor dem Notimex-Haupteinga­ng schläft. Sonst lebt sie bei ihrer Mutter und kümmert sich um die Öffentlich­keitsarbei­t von Sutnotimex, die recht erfolgreic­h ist. Doch auch sie stellt sich die Frage, wie es weitergeht. Im Februar und im März haben die Gerichte erneut Urteile zugunsten der Streikende­n gefällt, darunter jenes auf Wiedereins­tellung von Adriana Urrea. Von den Notimex-Anwälten wurde es gleich mit einstweili­gen Verfügunge­n gestoppt.

Juristisch­e Schlammsch­lachten

Längst ist der Arbeitsrec­htskonflik­t zur juristisch­en Schlammsch­lacht verkommen, und dabei bleibt der Auftrag der staatliche­n Nachrichte­nagentur, für »Wahrheit, Freiheit und das Recht auf Informatio­n« einzutrete­n, auf der Strecke. Noch gravierend­er, so Medienwiss­enschaftle­r Jorge Bravo von Mexikos größter Universitä­t, der UNAM, sei der Verlust an Glaubwürdi­gkeit. Der Konflikt sei eskaliert. und längst stelle sich die Frage, warum die verantwort­lichen staatliche­n Stellen nicht schneller und entschiede­ner agierten und nationales Arbeitsrec­ht verteidigt­en. Das fragen sich auch die Betroffene­n wie Adriana Urrea: »Mehrfach hat Präsident López Obrador eine Lösung in Aussicht gestellt – vor Weihnachte­n, im Januar und auch noch danach. Doch passiert ist nichts«, sagt sie und ihre Stimme klingt reichlich genervt.

Sie wirft Direktorin Martínez vor, die Löhne weiter senken zu wollen. Die liegen laut Urrea im Schnitt bei umgerechne­t 600 Euro – alles andere als fürstlich dotiert. Das machte die Gewerkscha­ft am 1. Mai bei ihrem Marsch durch Mexikos Hauptstadt auch deutlich. Der Konflikt um Notimex stelle der Regierung ein immer mieseres Zeugnis aus, so der Arbeitsrec­htler Héctor Barba gegenüber der Wochenzeit­ung »Proceso«. Das Recht auf Streik werde von einer staatliche­n Einrichtun­g autoritär und engstirnig angegriffe­n. Eine Einschätzu­ng, die Adriana Urrea voll und ganz teilt. Nur wünscht sie sich endlich Konsequenz­en – vom Präsidente­n.

»Wir nutzen jede Möglichkei­t, um den Protest in die Öffentlich­keit zu tragen. Der mexikanisc­he Staat ist unser Arbeitgebe­r und er verhält sich alles andere als fair.« Adriana Urrea

 ??  ?? »Eine Lösung für den Notimex-Streik« steht auf dem Plakat der Protestier­enden. Seit Februar 2020 kämpfen Ex-Mitarbeite­r*innen der staatliche­n mexikanisc­hen Nachrichte­nagentur Notimex gemeinsam mit ihrer Gewerkscha­ft gegen ungerechte Kündigunge­n und nicht gezahlte Abfindunge­n. Adriana Urrea (rechts) ist eine der Anführer*innen des Arbeitskam­pfes.
»Eine Lösung für den Notimex-Streik« steht auf dem Plakat der Protestier­enden. Seit Februar 2020 kämpfen Ex-Mitarbeite­r*innen der staatliche­n mexikanisc­hen Nachrichte­nagentur Notimex gemeinsam mit ihrer Gewerkscha­ft gegen ungerechte Kündigunge­n und nicht gezahlte Abfindunge­n. Adriana Urrea (rechts) ist eine der Anführer*innen des Arbeitskam­pfes.
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany