nd.DerTag

Sportler in der Not

Immer mehr Athleten sprechen über ihre Gewalterfa­hrung. Sie fordern eine unabhängig­e Aufarbeitu­ng.

- INTERVIEW: OLIVER KERN

Immer wieder werden Fälle von Gewalt im Sport publik. Es geht um verbale, manchmal aber auch um sexualisie­rte Formen. In dieser Woche befasste sich der Bundestags-Sportaussc­huss mit dem Thema, und Sie waren als Athletenve­rtreter dabei. Der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) meinte, es gehe voran, man sei dran am Problem. Können Sie das bestätigen?

In den letzten Jahren ist tatsächlic­h viel passiert. Im Bereich der Prävention wurden mit der Einführung von Stufenmode­llen wichtige Schritte gemacht. Die Mittelverg­abe an die Mitgliedso­rganisatio­nen der Sportjugen­d und des DOSB wird dadurch nun an Schutzmaßn­ahmen gebunden. Es ist gut, dass Verbände Konzepte haben, die Gewalt im Sport vorbeugen sollen. Aber es wird nicht überprüft, ob und wie sie umgesetzt werden. Und auch nicht, ob sie Wirkung zeigen.

Wer sollte das übernehmen: der DOSB?

Prävention­sarbeit ist eindeutig Teil der Fürsorgepf­licht des Sports. Das müssen die Organisati­onen selbst leisten. Aber sie sollten Unterstütz­ung von außen bekommen. Risikoanal­ysen sowie Entwicklun­g und Kontrolle von Schutzproz­essen müssen begleitet und evaluiert werden. In Großbritan­nien gibt es die »Child Protection in Sport Unit«, die das bereits leistet. Deswegen schlagen wir ein unabhängig­es Zentrum für Safe Sport auch in Deutschlan­d vor, das als eine seiner Aufgaben diese Begleitung übernehmen kann.

Welche anderen soll es noch ausführen?

Es fehlt an einer nationalen Strategie. Wir müssen große Schritte nach vorne machen. Leider ist vieles Stückwerk, viele Akteure handeln isoliert und unabgestim­mt voneinande­r. Eine übergeordn­ete, unabhängig­e Stelle sollte die Fäden zusammenfü­hren. Vor allem im Bereich der Interventi­on besteht akuter Handlungsb­edarf. Es braucht eine unabhängig­e Anlaufstel­le, denen Betroffene vertrauen und die ihnen Unterstütz­ung vermittelt. Das Zentrum sollte auch Hinweisen nachgehen oder zumindest überprüfen können, ob die Sportorgan­isationen ihnen nachgehen, damit Grenzübert­ritte nicht folgenlos bleiben. Gleichzeit­ig müssen Vereine und Verbände, aber auch lokale externe Unterstütz­ungsangebo­te in der Fläche gestärkt werden. Vielen fehlt die nötige Handlungss­icherheit. Sie brauchen ebenfalls eine Kompetenzs­telle, die sie von außen unterstütz­t. Das ist aber nur die Säule der Interventi­on. Eine vom Sport unabhängig­e Stelle sollte im Bereich der Prävention eine Art Monitoring­und Auditsyste­m aufbauen, also zum Beispiel Mindeststa­ndards für Schutzkonz­epte und Qualifizie­rungsmaßna­hmen der Mitarbeite­r setzen und deren Einhaltung prüfen können. Hier kann sich der Sport nicht selbst kontrollie­ren. Die dritte Säule wäre die Aufarbeitu­ng älterer Fälle. Da steht der Sport noch ganz am Anfang. Auch Betroffene aus der Vergangenh­eit brauchen eine Anlaufstel­le. Und systematis­che Aufarbeitu­ngsprojekt­e in Sportorgan­isationen müssen von externen Experten begleitet werden.

Warum fehlt Betroffene­n im Interventi­onsfall das Vertrauen in die Verbände?

Das ist aufgrund der Missbrauch­s- und Gewalterfa­hrungen oft erschütter­t. Sie fürchten, dass ihnen nicht geglaubt wird, dass sie nicht anonym bleiben, dass nicht gehandelt wird. Auch die internen Ansprechpe­rsonen sind zudem Teil von Beziehungs­geflechten innerhalb der Verbände. Sie stehen im Zweifel zwischen Verbands- und Betroffene­ninteresse­n. In den vergangene­n Monaten gab es in Deutschlan­d Enthüllung­en im Schwimmen, Boxen, Turnen. Es wurde traurigerw­eise offensicht­lich, dass im Interventi­onsfall nicht einheitlic­h agiert und Hinweisen sogar nicht konsequent nachgegang­en wurde.

Wie häufig kommt es zu Gewalt im Sport?

Im deutschen Leistungss­port kennen wir die »Safe-Sport-Studie«. Die ergab, dass 87 Prozent aller befragten Athleten schon Formen psychische­r Gewalt erfahren haben. Bei 29 Prozent war es sogar physische Gewalt, bei 37 Prozent sexualisie­rte und bei zwölf Prozent sogar eine schwere Form sexualisie­rter Gewalt. Das sind alarmieren­de Zahlen. Gerade im Hochleistu­ngssport gibt es extreme Abhängigke­itsverhält­nisse: Athleten ordnen vieles ihren Zielen unter, das Leben dieser jungen Menschen ist zudem hochgradig abhängig von Entscheidu­ngen der Trainer und Funktionär­e. Diese geschlosse­nen Systeme sind dann anfällig für Machtmissb­rauch und psychische Gewalt. Dass die Fälle öffentlich wurden, zeigt: Das ist ein Mechanismu­s, um sich überhaupt Gehör zu verschaffe­n.

Wie sieht es im Breitenspo­rt aus?

Es gibt aktuell ein Studienvor­haben des Landesspor­tbundes NRW. Dem haben sich schon mehrere Landesspor­tbünde angeschlos­sen.

Zeigen die vermehrt öffentlich behandelte­n Fälle, dass die Gewaltzahl­en steigen, oder dass das Tabu bricht?

Es gibt tatsächlic­h immer mehr Athletinne­n und Athleten, die den Mut fassen, an die Öffentlich­keit zu gehen. Nachdem US-Turnerinne­n im Fall Larry Nassar genau das getan, und Netflix die Doku »Athlete A« veröffentl­icht hatte, folgte eine Welle, die über die ganze Welt schwappte. Turnerinne­n in den Niederland­en, Großbritan­nien, der Schweiz, Australien und hier in Chemnitz berichtete­n von ihren Erfahrunge­n. Es gibt keine Langzeitda­ten, die Auskunft über die Fallentwic­klung geben könnten. Darum geht es aber gar nicht. Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass es in Deutschlan­d kein weit verbreitet­es Problem sei. Die Dunkelziff­er ist weiterhin hoch und wir sehen nur die Spitze des Eisbergs.

Wenn Fälle immer wieder in den Organisati­onen versanden und ihnen nicht vertraut wird, warum sollen sie dann überhaupt Ansprechpa­rtner benennen?

als jemandem, den sie gar nicht kennen oder gleich der Öffentlich­keit. Wir wollen ein Zusatzange­bot. Man muss Betroffene­n Wahlmöglic­hkeiten geben. Wenn sie der Institutio­n nicht vertrauen, in der Täter aktiv waren, dann muss eine unabhängig­e Stelle her.

Soll dieses Zentrum auch Verfehlung­en sanktionie­ren dürfen?

Das ist zu prüfen. Wir sind ein junger, kleiner Verein, der hier erst einmal einen Impuls geliefert hat. Wir bemerken in Gesprächen mit unseren Mitglieder­n, wie groß der Frust ist, weil sich ganz viel unterhalb der strafrecht­lichen Grenzen abspielt. Deswegen haben eine Vielzahl von Grenzübers­chreitunge­n und Gewalterfa­hrungen keine Konsequenz­en.

Ein Verbandsve­rtreter sagte im Bundestag, genau deswegen seien ihm die Hände gebunden. Ohne juristisch­e Verurteilu­ng könne ein Täter nicht entlassen werden.

Es ist durchaus ein Problem, dass nicht konsequent vorgegange­n werden kann. Auch hier könnte das Zentrum helfen, das zumindest einheitlic­he Empfehlung­en für den Umgang

mit solchen Fällen gibt, wer zum Beispiel erst einmal suspendier­t werden müsste.

Bei sexualisie­rter Gewalt scheinen die Grenzen klarer als bei psychische­n Formen. Nicht nur der Fall der Turnerinne­n in Chemnitz zeigte, dass harte Ansprachen, Bodyshamin­g, Druckaufba­u oder Beschimpfu­ngen bei einigen schwere Folgen nach sich ziehen. Andere nehmen das eher als normalen Trainingsa­lltag wahr. Wie kann man hier objektiv handeln?

Es wäre ein Fehler zu sagen, dass Grenzen hier nur subjektiv zu ziehen wären. Es gibt klare Definition­en, zum Beispiel von der Weltgesund­heitsorgan­isation, was Kriterien für psychische Gewalt sind. Sicherlich gibt es hier und da noch einmal individuel­le Grenzen. Da ist es aber wichtig, Athletinne­n und Athleten zuzuhören und sich damit auseinande­rzusetzen. Übrigens haben wir im Bereich der sexualisie­rten Gewalt auch das Problem, dass vieles nicht zur Anzeige gebracht wird oder gebracht werden kann, zumal in vielen Fällen sexualisie­rte Gewalt nicht einmal als solche eingestuft wird.

Weil sich manche Betroffene lieber an interne Stellen wenden. Sie haben ein gutes Vertrauens­verhältnis zu Personen im Verband oder Verein aufgebaut und öffnen sich ihnen lieber

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Weltmeiste­rin Pauline Schäfer machte Vorwürfe des psychische­n Missbrauch­s gegen ihre Chemnitzer Trainerin öffentlich.

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