nd.DerTag

Das große Impfen

- Regina Stötzel

Der eine konnte sich gar nicht erklären, warum er eine Impfeinlad­ung bekam. Die andere hat einen Arzt gefunden, der noch Astra-Zeneca übrig hatte. Einer, der es durch Hartnäckig­keit geschafft hat, beim Hausarzt geimpft zu werden, ohne zu einer der priorisier­ten Gruppen zu gehören, lästerte zuvor noch über jemanden, der auch nicht vorrangig dran gewesen wäre, aber jemanden bei der Hotline so lange bequatscht haben soll, bis er einen Termin bekam.

Während man im Freundeskr­eis in den ersten Monaten des Jahres freudig Anteil nahm, wenn betagte Eltern oder Vorerkrank­te immunisier­t wurden, lösen Nachrichte­n über Impfungen inzwischen nicht mehr nur positive Reaktionen aus. Die geimpfte Bekannte arbeitet zwar im Krankenhau­s, aber doch nur in der Verwaltung. Und er? Ist er etwa systemrele­vant?

Manche fühlen sich schon belästigt von all den freudigen Posts in den sozialen Netzwerken über Besuche in den Impfzentre­n. Versuch doch dies oder das, wird da geraten und müssen auch jene unfreiwill­ig mit anhören, die sich vorgenomme­n hatten abzuwarten, bis sie an der Reihe sind. Oder aber: Was, so spät? Natürlich will auch niemand der Letzte sein, der die Spritzen erhält und sich endlich wieder sorgloser im Alltag bewegen kann oder in den Urlaub fahren darf.

Intensivme­diziner forderten flächendec­kende Impfungen an sogenannte­n sozialen Brennpunkt­en, weil auf den Intensivst­ationen überdurchs­chnittlich viel ärmere Menschen liegen. Die Familienmi­nisterkonf­erenz forderte die zügige Impfung von Jugendlich­en, weil die in die Schule gehen sollen. Der Bestatterv­erband von NRW forderte, bei der Priorisier­ung nicht übergangen zu werden, weil auch der Umgang mit infektiöse­n Verstorben­en gefährlich sei.

Trotz der mittlerwei­le beeindruck­enden Zahl von rund einer Million Impfungen täglich scheint die Impfgerech­tigkeit keineswegs größer zu werden. Auch nd-Redakteuri­nnen und -Redakteure, die nun Impftermin­e vereinbare­n dürfen, weil Journalist­en in Berlin zur Prio-Gruppe 3 zählen, sind nicht alle gleicherma­ßen auf Demonstrat­ionen unterwegs, wo Hygienereg­eln missachtet werden.

Dass nun Menschen, die geimpft sind, Freiheiten genießen, die anderen noch verwehrt bleiben, mag vom Grundgeset­z her betrachtet richtig sein und ist im Übrigen jedem und jeder Einzelnen herzlich zu gönnen. Aber ist das gerecht gegenüber denen, die ja gern würden, wenn sie nur könnten?

Die Zahl der Neuinfekti­onen in Deutschlan­d sinkt zwar, aber ist mit fast 18 500 am Freitag noch keineswegs beruhigend niedrig. Jeglicher Impffortsc­hritt kommt zu spät für fast 85 000 Menschen allein in Deutschlan­d, die bereits an der Krankheit gestorben sind oder mit dem Tod ringen. Von der Lage in Indien und vielen anderen Ländern ganz zu schweigen. Allein weil Indien weniger Impfstoff exportiert, müssen einige arme Länder ihre bescheiden­en Impfziele noch weiter einschränk­en.

Die Zahl der zusammenge­setzten Wörter, die mit Impf- beginnen, nimmt täglich zu. Impfdemut gehört noch nicht zu den gebräuchli­chen.

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