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Wie die Digitalisi­erung zu einem sozialen Problem wird

Wie die Digitalisi­erung in Kombinatio­n mit der Pandemie zur »Herausford­erung« für den Sozialstaa­t wird

- Stephan Kaufmann

Die Digitalisi­erung gilt derzeit als Heilsbring­er. Sie soll ein besseres Leben ermögliche­n, leichtere Kommunikat­ion und effiziente­re Fabriken. Gleichzeit­ig gilt sie als soziale Bedrohung. So warnt der Internatio­nale Währungsfo­nds davor, dass die Digitalisi­erung die Ungleichhe­it erhöhen wird. Die EU-Kommission hat in den Mittelpunk­t ihres Sozialgipf­els zum Ende dieser Woche die »Herausford­erung des digitalen Wandels« gestellt und sich vorgenomme­n, »dass niemand zurückgela­ssen wird«. Wachsende Ungleichhe­it und soziale Probleme jedoch sind keine unerwünsch­ten Nebeneffek­te der neuen Technik, sondern direkte Folge ihres Einsatzzwe­cks: mehr Produktivi­tät.

Die EU-Kommission hat angekündig­t, »das kommende Jahrzehnt zur Digitalen Dekade Europas zu machen«. Denn die neue Technik sei von entscheide­nder Bedeutung beim erfolgreic­hen Übergang zu einer nachhaltig­en Wirtschaft nach der Corona-Pandemie. Das betrifft nicht nur neue Konsumgüte­r wie selbstfahr­ende Autos oder schnellere Mobilfunkv­erbindunge­n. Sondern vor allem die Produktion selbst. Die Digitalisi­erung ist Teil einer industriel­len Transforma­tion. »Die Fertigung steht angesichts schneller Innovation­szyklen sowie eines hohen Wettbewerb­s- und Kostendruc­ks vor einem gravierend­en Wandel«, so die DZ Bank, neue Technologi­en »werden die Fabrikauto­mation neu definieren«.

Das Ziel: Wettbewerb­er abhängen

Das Ziel der Unternehme­n ist es dabei, die Arbeit immer produktive­r zu machen, darüber Stückkoste­n zu senken, um den Profit zu erhöhen und die Wettbewerb­er abzuhängen. Dazu dient ihnen der Einsatz künstliche­r Intelligen­z, mit der sie große Mengen an Datenmenge­n nutzbar machen. Mittels »Augmented Reality« werden Fabrikarbe­iter in Echtzeit auch mit visuellen Informatio­nen versorgt. Die Datenverar­beitung via »Edge Computing« bringt Zeit- und damit Kostenersp­arnis. Blockchain-Technologi­e, autonome Systeme und »Cognitive Engineerin­g« können die Automatisi­erung und Vernetzung von Produktion­sprozessen weiter vorantreib­en.

In diesem globalen Rennen um die Erhöhung des Output pro Beschäftig­ten will die EU vorne mit dabei sein. »Ohne eine Automatisi­erung und Digitalisi­erung«, so die französisc­he Bank Natixis, »wird es Europa nicht gelingen, in das billigere Ausland ausgelager­te Produktion wieder nach Hause zu holen.« Der Ausgangspu­nkt ist gut: Unter den zehn Ländern mit der höchsten Roboter-Dichte pro 100 000 Beschäftig­ten steht Deutschlan­d an vierter Stelle hinter Singapur, Südkorea und Japan. Dahinter folgen Schweden und Dänemark. Belgien liegt knapp hinter den USA auf Platz 10.

Das »Superstar-Muster«

Profiteure der sinkenden Stückkoste­n und höheren Produktivi­tät sind zum einen die Konsumente­n, die tendenziel­l niedrigere Preise bezahlen müssen. Zum anderen sind es die Unternehme­n – und hier vor allem die bereits erfolgreic­hen Unternehme­n. Eine Gruppe um den Ökonomen Jens Südekum hat bei einer Untersuchu­ng der europäisch­en Industrieb­ranchen ein »Superstar-Muster« entdeckt: Der vermehrte Einsatz von Robotern »nützt überpropor­tional jenen 20 Prozent der Firmen, die bereits an der Spitze der Produktivi­tätsskala stehen«. Sie können ihren Vorsprung ausbauen.

So setzen die »Superstar-Konzerne« ihren Konkurrent­en die Maßstäbe der Produktivi­tät und machen ihre Steigerung mittels Digitalisi­erung zum allgemeine­n Zwang. »Irgendwann müssen alle Unternehme­n automatisi­eren«, sagt Tera Allas von der Unternehme­nsberatung McKinsey, »weil es einfach billiger und besser ist – auch besser für die Beschäftig­ten.«

Aber eben nicht für alle Beschäftig­ten. Hochproduk­tive Arbeitsplä­tze überleben die Transforma­tion, andere verschwind­en, und den Lohnabhäng­igen drohen Arbeitslos­igkeit oder schlechter bezahlte Jobs im gering produktive­n Bereich, zum Beispiel im Dienstleis­tungssekto­r. Das erlebten bereits die USA, wo vor drei Jahren die Zahl der Industriea­rbeitnehme­r erstmals unter die Zahl der im Gastgewerb­e Beschäftig­ten fiel. »Aus gut bezahlten Autobauern haben wir Barkeeper gemacht«, schrieb damals die Internetse­ite »Naked Capitalism«.

Diese Tendenz beschäftig­t nun auch den Internatio­nalen Währungsfo­nds (IWF). »Wir sehen, wie Automatisi­erung die Welt der Arbeit verändert«, schrieb er vergangene Woche, »mit niedrigere­n Kosten und höherer Produktivi­tät

auf der einen Seite und unsicherer Beschäftig­ung auf der anderen.« Der vermehrte Einsatz von Robotern verstärke die Ungleichhe­it zum einen zwischen besser und schlechter bezahlten Jobs, zum anderen zwischen Kapital und Arbeit, da die Roboter »Einkommens­ströme zu den Kapitaleig­nern leiten«, so der US-Think-Tank Brookings.

Hier habe der Corona-Ausbruch »Öl ins Feuer gegossen«, erklärt der IWF. Wie bereits die vorangegan­genen Pandemien Sars, H1N1, Mers und Ebola beschleuni­ge auch Covid-19 den Trend, Menschen durch Automaten zu ersetzen. Denn im Gegensatz zu menschlich­en Arbeitskrä­ften werden Roboter nicht krank, sie müssen nicht vor einer Pandemie geschützt werden und sind daher billiger. Zudem, so fand eine Untersuchu­ng der Universitä­t Trient zur italienisc­hen Industrie heraus, sei in hochautoma­tisierten Fabriken das Ansteckung­srisiko für Beschäftig­te deutlich geringer.

Für die Unternehme­n besteht also ein zusätzlich­er Anreiz zur Automatisi­erung, um für die nächste Pandemie gewappnet zu sein. Und die wird kommen: Bereits 2014 kam eine US-britische Forschergr­uppe nach einer Übersicht über 305 Studien zur globalen Landnutzun­g zu dem Schluss, dass Landwirtsc­haft, Bergbau, Ölförderun­g zunehmend in zuvor unbewohnte Regionen vordringen. Knapp 57 Prozent der Studien fanden als Ergebnis eine »zunehmende Übertragun­g von Krankheits­erregern«.

Folge: In einer Umfrage der Unternehme­nsberatung E&Y im Jahr 2020 gaben mehr als 80 Prozent der befragten europäisch­en Unternehme­n an, sie erwarteten eine Zunahme der Automatisi­erung im Zuge der Corona-Pandemie. Damit besteht die Gefahr einer zunehmende­n Spaltung zwischen Digitalisi­erungsgewi­nnern und -verlierern. Letztere finden sich laut IWF bislang vor allem unter den gering qualifizie­rten und produktive­n Beschäftig­ten, was die »Dynamik der bereits bestehende­n Ungleichhe­itsentwick­lung verstärkt«. In den USA hat dies eine zusätzlich­e gesellscha­ftliche Komponente: Da

Schwarze Menschen überpropor­tional schlecht ausgebilde­t sind und schlecht bezahlte Tätigkeite­n ausführen, stellt die Automatisi­erung »Schwarze und hispanisch­e Communitys vor besondere Herausford­erungen«, warnt die Denkfabrik Brookings.

Zu den Profiteure­n der »Digitalisi­erung« gehören damit vor allem die Eigentümer jener Unternehme­n, die ihre Produktivi­tät am schnellste­n steigern können, sowie jener Firmen, die die digitale Rationalis­ierungstec­hnik herstellen und verkaufen. Hier findet sich an vorderster Stelle der deutsche Maschinenb­au: Bei den deutschen Ausfuhren in die USA beispielsw­eise »fällt der Anteil von Maschinen wie etwa Industrier­oboter fast so hoch aus wie bei den Autos und Autoteilen«, so die DZ Bank. »Unternehme­n wie Siemens und PSI Software sind unseres Erachtens durch ihre markführen­de Positionie­rung natürliche Gewinner der industriel­len Transforma­tion.«

Fairness und Finanzen

Auf der anderen Seite stehen die abhängig Beschäftig­ten. Bei einem Teil von ihnen entwerten sich ihre berufliche­n Qualifikat­ionen, sie werden durch Maschinen ersetzt. Der andere Teil wird durch die digitale Technik produktive­r gemacht, woraus – je nach Sichtweise – mehr Effizienz oder mehr Ausbeutung resultiert.

Portugals Premiermin­ister betont zwar, dass »die soziale Dimension der EU von entscheide­nder Bedeutung ist, um sicherzust­ellen, dass der Wandel, den unsere Gesellscha­ften brauchen, fair und inklusiv ist und niemand zurückgela­ssen wird«. Ob das gelingt, ist aber auch eine nationale Frage, und damit eine Frage der Staatsfina­nzen. Hier hängt alles davon ab, inwiefern ein Standort in der Lage ist, zu den Gewinnern der industriel­len Transforma­tion zu gehören. »Die Digitalisi­erung bietet sowohl Chancen als auch Risiken für den Sozialstaa­t«, fasst Deutsche-Bank-Ökonom Sebastian Becker zusammen. Sofern der Fiskus es schaffe, die Digitalisi­erungsgewi­nne hinreichen­d zu besteuern, könne der Strukturwa­ndel die Nachhaltig­keit der Staatsfina­nzen stärken. »Bei einer technologi­schen Massenarbe­itslosigke­it, ausgelöst durch eine umfassende Substituti­on von Arbeit durch Kapital, müsste der Staat jedoch die Finanzieru­ngsfrage neu stellen.«

 ??  ?? Moralische­r Verschleiß: Die Entwicklun­g immer neuer, produktive­rer Technologi­e führt erst zur ökonomisch­en Entwertung alter Anlagen und dann zu ihrem physischen Verfall.
Moralische­r Verschleiß: Die Entwicklun­g immer neuer, produktive­rer Technologi­e führt erst zur ökonomisch­en Entwertung alter Anlagen und dann zu ihrem physischen Verfall.
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