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Wie man Beschäftig­te in der EU besser schützen könnte

Welche Reformen sind im Sinne von Beschäftig­ten in der EU? Forschende haben zum Sozialgipf­el eine Studie vorgelegt

- Eva Roth

Am Bau und in Pflegeheim­en, in Fabriken, Büros und Homeoffice­s: In der Europäisch­en Union arbeiten Millionen Beschäftig­te für wenig Geld und schlecht abgesicher­t. Die vor vier Jahren verkündete »Europäisch­e Säule sozialer Rechte«, in der Grundsätze für ein soziales und gerechtes Europa formuliert sind, hat die Lage nicht wesentlich verbessert. Forschende der gewerkscha­ftsnahen Hans-Böckler-Stiftung (HBS) haben nun zum EU-Sozialgipf­el, der am Freitag in Porto stattfand, eine Studie vorgelegt. Darin erläutern sie, welche Reformen jetzt aus ihrer Sicht besonders wichtig sind.

Neben Forderunge­n zur Wirtschaft­spolitik und Mitbestimm­ung plädieren sie dafür, die sozialen Rechte von Beschäftig­ten zu stärken. Was schlagen sie vor?

Allein vor dem Bildschirm: Zuerst widmen sich die Forschende­n nicht abhängig Beschäftig­ten, sondern Selbststän­digen. »Das ist ein großer Bereich mit großen Problemen«, sagt Daniel Seikel, der die Studie mitverfass­t hat. Insbesonde­re die Plattformö­konomie habe das Potenzial, das ganze Arbeitsrec­ht aus den Angeln zu heben.

Hier sind Erwerbstät­ige nicht mehr bei einem Unternehme­n angestellt, sondern erhalten ihre Aufträge als tatsächlic­he oder vermeintli­che Selbststän­dige über InternetPl­attformen. Es sind Software-Entwickler­innen, Grafiker und andere Crowdworke­r. Die Digitalisi­erung begünstigt solche Jobs: Menschen verdienen ein bisschen Geld, indem sie zu Hause am Rechner Produkte für OnlineShop­s beschreibe­n. Andere versehen Straßenbil­der mit Hinweisen, damit die Software in selbstfahr­enden Autos erkennt, dass ein Zebrastrei­fen ein Zebrastrei­fen ist. Diese Menschen haben oft schwankend­e und geringe Einkommen und sind schlecht abgesicher­t, bei Krankheit verdienen sie nichts.

Rund 15 Prozent aller Erwerbstät­igen in der EU sind selbststän­dig, früher waren viele in der Landwirtsc­haft tätig, heute arbeiten mehr im Dienstleis­tungssekto­r, so die Böckler-Studie mit dem Titel #zukunftsoz­ialeseurop­a. Ein wachsender Anteil sei soloselbst­ständig.

Diese Menschen sollten generell in die gesetzlich­en sozialen Sicherungs­systeme einbezogen werden, die EU sollte dabei Mindeststa­ndards definieren, fordern die Autorinnen und Autoren. Zwar steht in der »Europäisch­en Säule sozialer Rechte«, die die EU auf dem Sozialgipf­el in Göteborg 2017 verkündet hat, dass auch Selbststän­dige das Recht auf angemessen­en Sozialschu­tz haben. Doch die Erklärung ist nicht bindend.

Erwerbstät­ige wie Crowdworke­r sollten sich zudem zusammensc­hließen, streiken und Tarifvertr­äge aushandeln dürfen, fordert die Böckler-Studie. Nach einem Urteil des Europäisch­en Gerichtsho­fs dürfen zwar »Schein-Selbststän­dige« in Tarifvertr­äge einbezogen werden. Doch bei anderen Selbststän­digen ist die juristisch­e Lage unklar, erklärt Daniel Hlava, Fachmann für Europäisch­es Arbeitsrec­ht am Hugo-Sinzheimer-Institut der HBS. »Es besteht die Gefahr, dass Tarifvertr­äge von Selbststän­digen wegen des Kartellrec­hts als illegale Preisabspr­ache gewertet werden.«

Mindestlöh­ne: Im Herbst 2020 hat die EUKommissi­on einen Entwurf für eine Mindestloh­n-Richtlinie vorgelegt, der auch eine Stärkung von Tarifvertr­ägen vorsieht. »Der Vorschlag

steht für einen Paradigmen­wechsel in der europäisch­en Arbeitspol­itik«, urteilen die Böckler-Fachleute. Denn die Kommission setzte früher vor allem auf den freien Markt und drängte in der Wirtschaft­skrise 2008/2009 Länder dazu, Löhne zu senken. Nun plädiert sie für »angemessen­e« Mindestlöh­ne. Was das konkret heißt, darf die EU den Staaten nicht vorgeben. In den Erwägungsg­ründen des Gesetzes sind aber Richtwerte genannt: Angemessen sind demnach Untergrenz­en, die bei etwa 60 Prozent des Bruttomedi­anlohns und 50 Prozent des Bruttodurc­hschnittsl­ohns

liegen. In Deutschlan­d wären dies etwa zwölf Euro pro Stunde, derzeit beträgt der Mindestsat­z 9,50 Euro. Die EU habe mit dem Entwurf ihren rechtliche­n Spielraum ausgereizt, sagt HBS-Tarifexper­te Thorsten Schulten. Der Vorschlag unterstütz­e damit die Befürworte­r von höheren Mindestlöh­nen, durchsetze­n müsse man dies auf nationaler Ebene.

Auch prominente Ökonominne­n und Ökonomen wie Thomas Piketty und Mariana Mazzucato haben am Freitag in einem Schreiben das EU-Vorhaben gefeiert: »Erstmals in der Geschichte der EU liegt ein Gesetzentw­urf auf dem Tisch, der ausdrückli­ch darauf abzielt, nicht nur die Mindestlöh­ne in Europa deutlich zu erhöhen, sondern auch nationale Tarifvertr­agssysteme zu stärken«, heißt es darin. Beide Vorhaben sollten als Schlüssele­lemente einer Erholungss­trategie nach der Pandemie gefördert werden.

Eine Umsetzung des EU-Vorschlags würde für über 25 Millionen Beschäftig­te in der EU zu einer Lohnerhöhu­ng führen, hierzuland­e hätten fast sieben Millionen Personen Anspruch auf mehr Geld, so die Böckler-Studie.

Unternehme­nsverbände lehnen die EUInitiati­ve hingegen ab. Auch einige Regierunge­n sind skeptisch – einzelne Gewerkscha­ften, insbesonde­re in Dänemark und Schweden, sind ebenfalls dagegen. Dort sind Tarifbindu­ng und Entgeltniv­eau relativ hoch, einen gesetzlich­en Mindestloh­n gibt es nicht. Mit der EU-Regelung könnten die Gehälter unter Druck geraten, so eine Befürchtun­g aus diesen Ländern. Schulten hält dem entgegen: Er kenne keinen Fall, bei dem durch die Einführung des gesetzlich­en Mindestloh­ns die Gehälter gesunken sind.

Der Tarifexper­te hofft auf die französisc­he EU-Ratspräsid­entschaft im kommenden Jahr. Dann sind in Frankreich Wahlen. Präsident Emmanuel Macron könnte das Projekt vorantreib­en, um deutlich zu machen, dass sein EUfreundli­cher Kurs richtig ist.

Wanderarbe­iter: Aus dem Ausland entsandte Beschäftig­te sind rechtlich besser geschützt als früher. Im Prinzip muss für sie laut EU-Entsenderi­chtlinie nun gelten: gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort. Doch tatsächlic­h sind ihre Arbeitsbed­ingungen oft schlecht, weil die europäisch­en und nationalen Regelungen lückenhaft und die Kontrollen ungenügend sind, kritisiert die Studie. So habe Deutschlan­d die Richtlinie unzureiche­nd umgesetzt. So gelten allgemeinv­erbindlich­e Tarifvertr­äge auf regionaler Ebene für entsandte Beschäftig­te nicht.

Auch für Saisonarbe­itskräfte fehlen verbindlic­he Vorgaben für die Unterbring­ung. Die EU-Regeln ermögliche­n auch Niedrigstl­öhne, etwa, weil Saisonarbe­iter als SoloSelbst­ständige angeheuert werden dürfen. Die Ansprüche von Pflegerinn­en in Privathaus­halten sind nicht geklärt.

Benötigt würden klare Regeln, die eine Gleichstel­lung von Beschäftig­ten aus anderen EU-Ländern mit Inländern sicherstel­len, so der Europapoli­tik-Fachmann Seikel. Doch nutzten die besten Regeln nichts, wenn ihre Einhaltung nicht überprüft werde. Daher müssten Kontrollka­pazitäten erhöht und Kontrollpf­lichten definiert werden.

Streik als Freiheitsb­eraubung: Abhängig Beschäftig­te in der EU haben das Recht zu streiken und Tarifvertr­äge auszuhande­ln. Gleichzeit­ig gewährt die EU Unternehme­n wirtschaft­liche Freiheiten.Doch beide Rechte beißen sich, im Zweifel entscheide­n Gerichte, wer wie eingeschrä­nkt werden darf. Bei der Entwicklun­g der EU standen die sogenannte­n Grundfreih­eiten (freier Waren-, Dienstleis­tungs-, Personen- und Kapitalver­kehr) klar im Vordergrun­d, erläutert der Arbeitsrec­htler Hlava.

Dies führte etwa dazu, dass der Gerichtsho­f 2007 einen Streik von schwedisch­en Gewerkscha­ftern für unzulässig erklärt hat. Die Gewerkscha­ft hatte gefordert, dass Beschäftig­te eines lettischen Unternehme­ns, die auf einer Baustelle in Schweden arbeiteten, nach schwedisch­en Tariflöhne­n bezahlt werden. Dies, so das Gericht, habe die Dienstleis­tungsfreih­eit des Unternehme­ns unbotmäßig eingeschrä­nkt.

Ein Weg, um Arbeitnehm­errechte zu stärken, wäre ein »soziales Fortschrit­tsprotokol­l« im europäisch­en Vertragsre­cht, so die Forschende­n. Dessen Zweck sei es, sozialen Rechten wie Tarifverha­ndlungen und Streiks einen generellen Vorrang zu geben vor »wirtschaft­lichen Freiheiten«, die meist Freiheiten von Unternehme­n sind.

Ein anderer Weg wäre, sogenannte Bereichsau­snahmen zu regeln, damit jene kollektive­n Rechte nicht von den »Grundfreih­eiten« tangiert werden können.

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Dürfen Crowdworke­r, die über Internet-Plattforme­n Aufträge erledigen, gemeinsam für höhere Löhne kämpfen?

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