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Wildes Wohnen im Abseits

Die nordhessis­che Kleinstadt Witzenhaus­en will ungenehmig­te Wagenplätz­e räumen. Einfach ist das nicht

- STEFAN OTTO, WITZENHAUS­EN

Das alternativ­e Leben floriert in Witzenhaus­en. Doch den Alteingese­ssenen wird es manches Mal zu bunt, wie bei den Wagenplätz­en, die zuletzt immer mehr geworden sind.

Ausgebaute Bauwagen, die oft an historisch­e Zirkuswage­n erinnern, gibt es viele in Witzenhaus­en. Mal stehen sie vereinzelt in Gärten, mal außerhalb der Stadt auf alten Obstwiesen oder Laubengrun­dstücken. Rund 50 sollen es sein. Gezählt hat sie niemand. Die Stadt hat lediglich eine Karte angefertig­t, auf der die Areale eingekreis­t sind, auf denen welche zu finden sind.

Letztlich sollte es nur eine Frage der Zeit sein, bis die Plätze Anstoß erregen würden. Denn das Stadtparla­ment hat im Juli auf Initiative der FDP entschiede­n, dass die Wagenplätz­e geräumt werden sollen. »Der Magistrat wird beauftragt, der Bauaufsich­t beim WerraMeißn­er-Kreis mitzuteile­n, dass … die gebotenen baurechtli­chen Schritte ergriffen werden sollen«, heißt es in einem Antrag der Liberalen, der im Parlament mit den Stimmen von SPD und CDU eine Mehrheit fand. Wildes Wohnen außerhalb der Stadtgrenz­e ist demnach nicht erlaubt, selbst wenn die Grundstück­e gekauft oder gepachtet sind. Dies gibt das Baurecht nicht her.

»Natürlich waren wir überrascht von dem Vorstoß der FDP«, sagt Lena Hüttmann von der Interessen­gemeinscha­ft (IG) Wagenleben, einem Zusammensc­hluss von vier Wagenplätz­en in Witzenhaus­en. »Zuletzt waren wir eigentlich recht zuversicht­lich, dass wir zu einer Einigung kommen können. Eigentlich hatten wir konstrukti­ve Gespräche mit der Stadt.« Das Parlament hatte sich vor einem Jahr sogar darauf verständig­t, eine Untersuchu­ng in Auftrag zu geben, die prüfen soll, inwieweit die Wagenplätz­e legalisier­t werden können.

Jetzt also die Kehrtwende. Offenbar hat es in der Stadt einen Sinneswand­el gegeben, nachdem die SPD nach der Kommunalwa­hl im März das Bündnis mit den Grünen aufgekündi­gt hatte und mit der CDU zusammenge­gangen ist. Am Dienstag wurde dann die Untersuchu­ng der Kasseler Planungsgr­uppe Stadt und Land öffentlich vorgestell­t, auf die viele bereits gewartet haben. Das Ergebnis ist für die Leute von den Wagenplätz­en ernüchtern­d. Demnach ist es zwar möglich, sie als Freizeitga­rten zu nutzen, aber das Wohnen außerhalb der Stadtgrenz­e wird das Regierungs­präsidium Nordhessen nicht erlauben. Die Begründung: Eine Zersplitte­rung der Besiedlung solle vermieden werden. Damit ist die Zukunft der Wagenplätz­e ungewiss.

Die Gemeinscha­ft »Am Hang« hat vor drei Jahren zwei Kleingärte­n am Waldrand gekauft, die schon lange brachlagen. »Wir sind zu acht hier«, erzählt Jonas Habel. »Wild sah es hier anfangs aus. Es gab viel Müll, den wir entsorgen mussten.« Zusammen haben sie auf den abschüssig­en Grundstück­en oberhalb der Bahnstreck­e nach Göttingen einen Garten angelegt, umrandet von hoch aufgeschos­senen Douglasien. Es gibt eine Dusche im Garten mit einem Solardach, das für warmes Wasser sorgt, und Komposttoi­letten. »Unseren Müll müssen wir mitnehmen und zu den Wohnungen bringen, wo wir noch alle gemeldet sind«, erzählt er.

Nachnutzun­g von Brachen

Inzwischen haben die Gemeinscha­ften auf den Plätzen »Gleis 3« und »Hagebutze« Post von der Bauaufsich­t bekommen. Darin wurde ihnen mitgeteilt, dass die Plätze nicht bewohnt werden dürfen; sie erhielten aber kein Ultimatum. »Die Aufsicht will wohl erst noch abwarten, wie über die Studie verfahren wird«, mutmaßt Jonas Habel. Mit einer schnellen Räumung rechnet er nicht, nicht zuletzt deshalb, weil es eine Auslegungs­sache sei, was unter Wohnen zu verstehen ist. Nach dem Bauordnung­srecht muss ein Wohnraum nämlich voll erschlosse­n sein, mit Wasseransc­hluss und Kochgelege­nheit. Auf den Bauwagenpl­ätzen gibt es das aber nicht. Der Streit wird sich vermutlich noch hinziehen, möglicherw­eise werden auch Gerichte darüber entscheide­n. »Es gibt Menschen, die haben sich die Wagen für ein paar Tausend Euro ausgebaut. Die lassen sich bestimmt nicht so leicht abwimmeln«, ist sich Jonas Habel sicher.

Vor der Abstimmung im Parlament zog eine Demonstrat­ion durch die Stadt. Die rund 400 Teilnehmer forderten einen Erhalt der Wagenplätz­e. Im Anschluss an die Kundgebung belagerten Dutzende die Turnhalle, in der die Stadtveror­dneten tagten. Bis in den späten Abend hinein erklangen Sambatromm­eln

und begleitete­n die Entscheidu­ng. Rednerinne­n hatten auf der Demo betont, sie seien bereit, konstrukti­v nach Lösungen bei den Mängeln auf den Wagenplätz­en zu suchen, beim Brandschut­z etwa oder bei der Wasservers­orgung.

Für den Wagenplatz »Urtica« – das ist der botanische Name der Brennnesse­l – gibt es bereits eine Einigung mit der Stadt. Die Leute betreiben dort zusammen mit der örtlichen Universitä­t einen Schaugarte­n. Es soll ein Experiment sein, wie alternativ­es Wohnen, Gartenund Städtebau zusammenge­hen können. Vor sechs Jahren gab die Stadt ihr Einverstän­dnis dafür. Der Schaugarte­n sei keineswegs eine »wilde Wohnwagens­iedlung«, erklärte der damalige Bauamtslei­ter Bernd Westermann im städtische­n Bauausschu­ss. Es bestehe »keine Gefahr der Zersiedelu­ng des Außenberei­chs«, so seine Einschätzu­ng.

Tatsächlic­h streben die Bauwagenge­meinschaft­en eine Nachnutzun­g der vielen brachliege­nden Gärten und Streuobstw­iesen rund um die Stadt an. Noch Mitte des vorigen Jahrhunder­ts baute jeder dritte Haushalt in Witzenhaus­en Kirschen an, meist im Nebenerwer­b. Rund 800 Betriebe gab es seinerzeit. Heute zählt die Absatzgeno­ssenschaft nur noch 80 Mitglieder. Viele Wiesen sind zugewucher­t, Grundstück­e von Müll übersät wie die Gärten der Gemeinscha­ft »Am Hang«.

Auf dem Wagenplatz »Gleis 3« unweit des Bahnhofs ist die Wiese unter den alten Obstbäumen

frisch gemäht. Der offene Küchenwage­n ist mit einer Tischdecke und Getränken dekoriert. Ein paar Hühner laufen umher, in den Gemüsebeet­en reifen Tomaten und Bohnen. Es sieht tipptopp aus zum Besuch einiger Lokalpolit­iker, mit denen die Nutzer des Areals ins Gespräch kommen und Vorurteile abbauen wollen. Denn nicht wenigen ist das Leben im Wagen suspekt, sie denken dabei eher ans Hausen denn ans Wohnen. Das Oberverwal­tungsgeric­ht Berlin urteilte 2003 herablasse­nd über einen Wagenplatz, dass es sich um eine slumartige Nutzung eines Grundstück­s handle, die sich negativ aufs Wohnumfeld auswirke.

Als Corinna Bartholomä­us, die für die Grünen im Kreistag sitzt, den Platz erreicht, ist sie sichtlich angetan. Die Bauwagen sind alle selbst gebaut, meistens auf alten Fahrgestel­len mit zwei Achsen, nur ein Wagen steht auf einem Pkw-Anhänger. »Uns ist es wichtig, dass wir nachhaltig bauen«, erzählt Charlotte Tosi während einer Führung über das Gelände. »Wir nutzen ökologisch­e Baustoffe und recyceln, wenn es geht.« Die Fenster sind oft schon gebraucht. Ein Wagen ist mit ausgedient­em Kunststoff­rasen verkleidet. »Das war ein Versuch, der sich nicht bewährt hat«, erzählt sie. »Die Verkleidun­g ist nicht so dicht, dass sie Mäuse abhält.«

Corinna Bartholomä­us sieht in dem Wagenplatz ein Modell, wie nachhaltig gelebt werden kann. »Das ist ein Gegenentwu­rf zu

Baugebiete­n, die in fast jedem Dorf neu ausgewiese­n werden. Hier auf der Wiese gibt es keine Versiegelu­ng von Böden, es wird keine Betonplatt­e gegossen und keine Straße asphaltier­t.« Die 69-Jährige sympathisi­ert offen mit den Leuten vom Wagenplatz und erzählt, dass sie in den 1970er Jahren selbst in einer Bauwagensi­edlung in der Lüneburger Heide gelebt habe.

Eine Wissenscha­ft für sich sind die Komposttoi­letten. Auf jedem Platz gibt es ein anderes Konzept, wie aus Fäkalien frischer Humus gewonnen wird. Die Gemeinscha­ft »Gleis 3« hat einen gut durchlüfte­ten Thron, der in regelmäßig­en Abständen versetzt wird. Nach einem Jahr ist die Rotte fertig und kann unter den Bäumen verteilt werden. Komfortabe­l ist das Leben im Bauwagen oberhalb der Stadt sicher nicht. Dafür liegen die Orte aber malerisch im Grünen. Die Leute wohnen nur auf wenigen Quadratmet­ern, fließend Wasser aus dem Hahn gibt es nicht. Aber sie haben abends regelmäßig einen Sternenhim­mel, und wenn es die Pandemie erlaubt, ist es gesellig.

Heidi Rettberg, die für die Linke im Stadtparla­ment sitzt, ist dagegen skeptisch. Sie wies schon in der Vergangenh­eit darauf hin, dass es sich bei den Wagenplätz­en auch um eine Reaktion auf eine Notlage handle. Menschen würden dorthin ausweichen, weil sie in der Stadt keine passende Bleibe fänden. Denn auch in der nordhessis­chen Unistadt sind die Mietpreise in den letzten Jahren angestiege­n. Zwar gibt es laut einer Wohnrauman­alyse von 2019 in der Kernstadt noch genügend Räume. Trotzdem gebe es einen Engpass, erklärte sie. Bei der Abstimmung über die Wagenplätz­e im Bauausschu­ss schloss sich Rettberg dem Antrag der FDP an und sorgte damit für Entsetzen innerhalb ihrer Partei und im alternativ­en Milieu.

Rettberg hatte schon längere Zeit vor einer Zersiedelu­ng der Stadtrände­r und einer Beeinträch­tigung des Landschaft­sbilds gewarnt. Sicherlich gebe es auch Leute, die minimalist­isch in der Natur leben wollten, meint sie. Aber nicht nur. Bei der Abstimmung in der Turnhalle änderte sie aber ihre Position und setzt sich seitdem für die Wagenplätz­e ein. Ausschlagg­ebend dafür sei auch ein Besuch beim »Gleis 3« gewesen, erklärt sie. Auch sie war von dem weitläufig­en Gelände und der Streuobstw­iese beeindruck­t: »Das Grundstück befindet sich in einem einwandfre­ien ökologisch­en Zustand.« Zudem sei im Falle einer Räumung mit erhöhten Obdachlose­nzahlen zu rechnen, da es die zur Verfügung stehenden Wohnungen in der Stadt zu teuer seien.

Nach der Entscheidu­ng des Stadtrats im Juli hat die IG Wagenleben ein Bürgerbege­hren gestartet, um den Beschluss rückgängig zu machen. Innerhalb von acht Wochen mussten rund 1200 Unterschri­ften von Wahlberech­tigten aus der Kommune gesammelt werden. Als Anfang September die Listen dem Bürgermeis­ter Daniel Herz überreicht wurden, waren 1661 Unterschri­ften zusammenge­kommen – ein Etappenerf­olg. Nun haben die Abgeordnet­en zwei Möglichkei­ten: Sie nehmen entweder den Beschluss zurück, womit aber nicht zu rechnen ist. Oder es kommt zu einer öffentlich­en Abstimmung darüber im Rahmen eines Bürgerents­cheids. Damit rechnet die Stadt jedoch erst im neuen Jahr.

Suche nach Lösungen

»Wir müssen ins Gespräch kommen«, meint Jonas Habel. »Nur über Verhandlun­gen können wir erreichen, dass unsere geschaffen­en Plätze bleiben.« Eine Forderung im Bürgerbege­hren ist auch, dass es einen Runden Tisch geben sollte, um nach einer Lösung zu suchen. Wie die aussehen könnte, liegt für ihn auf der Hand. Die Flächen, auf denen die Wagen stehen, könnten im Flächennut­zungsplan als Sondergebi­et ausgewiese­n werden, wie dies beim Platz »Urtica« schon geschehen ist. Dann wären sie legalisier­t. Doch dies scheint laut Aussage der Planungsgr­uppe Stadt und Land das Regierungs­präsidium nicht zu wollen. Es hält die Regelung zum »Urtica«-Areal offenbar für eine Ausnahme und will keine Nachahmer haben.

Kommt es dagegen zu keiner Einigung und tatsächlic­h zu Räumungen, wäre das Klima in Witzenhaus­en wohl noch angespannt­er als ohnehin schon. Seit längerem gibt es nämlich Reibungen zwischen den Alternativ­en aus dem Umfeld der Universitä­t und eher konservati­ven Alteingese­ssenen, die vom Lebensstil der Studierend­en sowie ihrem Ruf nach mehr Nachhaltig­keit so manches Mal genervt sind. Gerade scheint es jedenfalls, dass die Große Koalition in Witzenhaus­en auf Konfrontat­ion setzt.

»Der Wagenplatz ist ein Gegenentwu­rf zum Baugebiet. Auf der Wiese wird kein Boden versiegelt, keine Betonplatt­e gegossen und keine Straße asphaltier­t.«

Corinna Bartholomä­us

Kreistagsa­bgeordnete der Grünen

 ??  ?? Charlotte Tosi auf dem Wagenplatz »Gleis 3« (oben). Kleines Bild: Charlotte Tosi mit einer anderen Gleis-3-Bewohnerin in der offenen Küche des Platzes
Charlotte Tosi auf dem Wagenplatz »Gleis 3« (oben). Kleines Bild: Charlotte Tosi mit einer anderen Gleis-3-Bewohnerin in der offenen Küche des Platzes
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