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Auf dem Marsch durch die Institutio­nen

Einst wurde Occupy als außerparla­mentarisch­e Bewegung gegründet. 2015 starteten Ex-Protagonis­ten die Kampagne für die Präsidents­chaftskand­idatur von Bernie Sanders

- ANJANA SHRIVASTAV­A

Herrschaft­s- und hierarchie­frei wollte die im September ins Leben gerufene Bewegung der »99 Prozent« sein. Heute arbeiten ehemalige Aktivisten in Strukturen der Demokratis­chen Partei.

Es war das Unverhofft­e an Occupy Wall Street einige Jahre nach der Finanzkris­e im Jahr 2008, an das sich die Bewunderer der Bewegung noch heute erinnern. Einige Hundert Menschen besetzten vor zehn Jahren, am 17. September 2011, den kleinen Zuccotti-Park in der Nähe der New Yorker Börse. – unangekünd­igt, aber gut organisier­t. Ihr Protest gegen den Einfluss der Finanzmärk­te war ein Schuss vor den Bug der Demokratis­chen Partei. Mehr als 100 000 Demonstran­ten zogen danach in rund 600 Städten der Vereinigte­n Staaten nach, besetzten auch dort Plätze. In Deutschlan­d schlugen Aktivisten in Frankfurt am Main und Hamburg Occupy-Camps auf. In den USA wird Occupy heute vor allem als Patin der Kampagnen für die Präsidents­chaftskand­idatur von Bernie Sanders gesehen.

Kritiker erinnern indes vor allem an den relativ schnellen Zerfall der Bewegung; an den Unwillen der Aktivisten, ein Programm zu formuliere­n, die inneren Spannungen im Zuge

der Parkbesetz­ung, Gerüchte um Antisemiti­smus sowie die sich verschlech­ternde Sicherheit­ssituation im Camp vor der gewaltsame­n Räumung durch die Polizei am 15. November. Tom Hayden, der damals im Zuccotti-Park dabei war, sagt im Gespräch mit »nd«, er habe wegen des Rückschlag­s für Occupy große Angst um die Wiederwahl Obamas gehabt. Bereits damals begann Donald Trump auch wegen der vagen Occupy-Forderunge­n nach Umverteilu­ng des Reichtums, sich auf eine Karriere in der Politik vorzuberei­ten. Große Teile der Gesellscha­ft waren damals jedoch sehr offen gegenüber der Bewegung, die allerdings oft chaotisch wirkte.

Gerade ihr jähes Ableben trägt indes heute zum Mythos Occupy bei. Die Bewegung starb jung wie ein Rockstar und kann folglich nicht mit normalen Maßstäben gemessen werden. Und so lässt sich auch nicht feststelle­n, ob es ohne Occupy wirklich keine Sanders-Kampagne gegeben hätte? Aber tatsächlic­h wurde Occupy-Aktivist Winnie Wong später Seniorbera­ter von Sanders, und Charles Lenchner leitete die Onlinekamp­agne für Occupy ebenso wie die für Sanders. Aus Occupy ging die Gruppe »People for Bernie« im Jahr 2015 hervor. Der Afroamerik­aner Maurice Mitchell, Leiter der Working Families Party, behauptet gegenüber der Zeitschrif­t

»The Atlantic«: »Occupy hat die politische Kultur Amerikas deutlich verschoben, Liberale wurden radikalisi­ert, und Radikale wurden auf Wahlergebn­isse eingeschwo­ren.« Und Occupy hat Themen besetzt: die Verschuldu­ng von Studenten und Mietern, die die Demokraten auch unter Barack Obama vernachläs­sigten, weshalb viele Menschen von ihrem früheren Hoffnungst­räger schwer enttäuscht waren. Viele Banken und Finanzunte­rnehmen hatten sich 2011 von der Finanzkris­e 2007/2008 erholt. Millionen Bürger litten aber weiterhin unter den Folgen, hatten ihre Jobs, ihre Altersvors­orge und ihre Häuser verloren.

Doch das Exzentrisc­he der Bewegung schreckte seinerzeit auch viele ab, etwa die Ablehnung von Gremien und Strukturen. Selbst Mikrofone wurden verabscheu­t. Man setzte auf das »human microphone«, was bedeutete, dass gesprochen­e Sätze von Nebenstehe­nden laut wiederholt wurden. Der vor einem Jahr verstorben­e David Graeber, Schlüsself­igur von Occupy und Anarchist, erinnerte sich an 800 000 gespendete Dollar, die im Zuccotti-Park in einer Mülltüte aufbewahrt wurden. Im engen Raum des Parks wurde spätestens, als sich auch viele Obdachlose dort einfanden, eine organisato­rische Überforder­ung deutlich – trotz großen Einsatzes von Aktiven in der Küche oder bei der Technik. Occupy-Mitbegründ­er Micha White, Teil eines kanadische­n AdbusterTe­ams, beschreibt gegenüber dem »Guardian« den Werdegang der Bewegung heute als Niederlage für den Aktivismus an sich.

Wenn Occupy die Kandidatur von Sanders voranbrach­te, so macht auch diese Entwicklun­g eine Kapitulati­on gegenüber der Berufspoli­tik deutlich. Aber kann die Demokratis­che Partei die Occupy-Anliegen jetzt voranbring­en, obwohl sich die Kritik vor zehn Jahren gerade gegen sie richtete?

Die Gründer von Occupy setzten seinerzeit auf programmat­ische Unklarheit, um die Bewegung und den Konsens möglichst breit zu halten. Joe Biden und Bernie Sanders versuchen heute etwas Ähnliches, indem sie trotz unterschie­dlicher Ansätze kooperiere­n. Doch es ist offen, ob die Biden-Administra­tion den Bürgern nutzen wird oder doch wieder Konzernen und Finanzindu­strie.

Die Parole »Wir sind die 99 Prozent«, die Occupy einst berühmt machte, bildet sich jedenfalls im politische­n Alltag nicht ab. Die demokratis­che Ex-Senatorin Heidi Heitkamp aus North Dakota bekämpft jetzt als Lobbyistin die Politik von Bernie Sanders, und zwar im Namen der ländlichen Hausbesitz­er, die fürchten, ihre Häuser durch die

Einführung einer Erbsteuer womöglich zu verlieren. Schafft es die profession­elle Politik die Wogen zu glätten, aus Nothilfe nachhaltig­e Sozialstru­kturen zu bauen? Oder ist das Demokratis­che Establishm­ent nur der Wolf im Schafspelz? Wer rettet am Ende wessen Interessen? Es ist ein langer Weg. Die Occupy-Bewegung dient progressiv­en Kräften heute als Inspiratio­n und als Mahnung gleicherma­ßen.

Die Soziologin Heather Hurwitz, Autorin des Buches »We are the 99%?«, findet zudem, dass Occupy die Gesellscha­ft der USA durchaus in vielen Bereichen verändert und die Politik »auf Jahre geprägt« hat. Die Energie der Aktivistin­nen und Aktivisten sei nicht nur in die Sanders-Kampagne geflossen, sondern auch in die antirassis­tische »Black Lives Matter«-Bewegung, die Klimaschut­zbewegung, die große Frauenkund­gebung gegen den das frauenfein­dliche Programm des neuen Präsidente­n Donald Trump 2017, urteilt Hurwitz. Sie hat zusammen mit Kolleginne­n und Kollegen ein digitales OccupyArch­iv angelegt. Und sie kritisiert, dass Occupy zwar weitreiche­nde Forderunge­n wie die nach höheren Steuern für die Reichen oder einer Bankenrefo­rm erhob, es aber versäumte, Ursachen von Unterdrück­ung und Diskrimini­erung zu analysiere­n.

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