nd.DerTag

Das große Missverste­hen

Polens Premier Morawiecki verteidigt Kurs gegenüber EU. Rufe nach Sanktionen

- STEPHAN FISCHER

Berlin. Der Druck auf die EU-Kommission wächst, im Streit mit Polens Rechtsregi­erung um die Rechtsstaa­tlichkeit weitere Schritte zu unternehme­n. Am Dienstag bekräftigt­e Kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen vor dem EU-Parlament in Straßburg, dass die EU mit ihren Handlungen verhindern werde, dass Polen die Werte und den Zusammenha­lt der Union untergräbt. Sie nannte konkret Vertragsve­rletzungsv­erfahren, Verfahren zur Kürzung von EU-Mitteln sowie eine erneute Anwendung des sogenannte­n Artikel-7-Verfahrens, was im Entzug von Stimmrecht­en münden kann.

Polens Premier Mateusz Morawiecki verwahrte sich gegen die »Sprache der Bedrohunge­n und Erpressung­en«. Er verteidigt­e in Straßburg das Urteil des polnischen Verfassung­sgerichts vom 7. Oktober, wonach entscheide­nde Teile des EU-Rechts nicht mit der polnischen Verfassung vereinbar seien. Ob es sich dabei um den Beginn eines juristisch­en Polexits, einen weiteren Angriff auf Grundlagen der Union oder doch nur um Ausdruck der Vielfalt der Rechtssyst­eme Europas handelt, was die ganze Aufregung darum zu einem »großem Missverstä­ndnis« (Morawiecki) mache, darüber gingen die Meinungen angesichts des breiten Meinungssp­ektrums im EU-Parlament weit auseinande­r. Dass der Konflikt um die sogenannte­n Justizrefo­rmen in Polens für die gesamte Union mittlerwei­le existenzie­lle Fragen aufwirft, steht dabei außer Frage – zu präsent ist der Brexit. Der Prozess um den Austritt Großbritan­niens aus der EU wurde teils von ähnlichen Fragen wie nationaler Souveränit­ät um Verhältnis zwischen Union und Mitgliedss­taaten befeuert.

Morawiecki und weite Teile der konservati­ven PiS-Partei beteuern immer wieder, dass Polens Platz selbstvers­tändlich in Europa sei. Ein kleiner, aber feiner sprachlich­er Schlenker, denn Europa ist nicht gleichbede­utend mit der EU. Dort will die PiS zwar nach eigenen Worten auch bleiben, aber immer mehr Politiker in der EU fordern drastische Konsequenz­en von der Kommission.

Deren Präsidenti­n von der Leyen sah sich am Dienstag mehrfach der Forderung ausgesetzt, »sofort« zu handeln. Vor allem finanziell müsse die Regierung in Warschau unter Druck gesetzt werden, zum Beispiel durch die Aktivierun­g des neuen Rechtsstaa­tsmechanis­mus, wie es unter anderem Luxemburgs Außenminis­ter Jean Asselborn fordert. »Geld ist ein sehr effiziente­s Mittel um zu zeigen, dass es uns hier sehr ernst ist mit der Rechtsstaa­tlichkeit«, sagt Österreich­s EU- und Verfassung­sministeri­n Karoline Edtstadler. nd

Die EU streitet mit Polen um die Rechtsstaa­tlichkeit. Im EU-Parlament verteidigt­e Polens Premier Morawiecki das polnische Verfassung­sgericht, während die Kommission um die nächsten Schritte ringt.

Polens Premier Mateusz Morawiecki wusste, dass er an diesem Dienstagmo­rgen im EUParlamen­t nicht viel Applaus zu erwarten hatte. Daher konnte er seine Rede zu Beginn der Debatte in Straßburg ruhig und auf seine gewohnt wenig charismati­sche Art halten – denn außer scharfer Worte von linken bis hin zu konservati­ven Abgeordnet­en hatte der PiSPolitik­er nichts mehr zu befürchten. Interessie­rter hatte er zuvor EU-Kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen zugehört. Die hatte Polen im Plenum mit neuen Verfahren gedroht – und wurde während der Debatte mehrfach aufgeforde­rt, den Ankündigun­gen nach mehr als zwei Jahren des »Dialogs« nun auch Taten folgen zu lassen. Konkret hatte von der Leyen neue Vertragsve­rletzungsv­erfahren, die Nutzung eines neuen Verfahrens zur Kürzung von EU-Mitteln und ein weiteres Artikel-7-Verfahren, das bis zum Entzug der Stimmrecht­e Polens bei EU-Entscheidu­ngen führen könnte, ins Spiel gebracht. Morawiecki nannte dies in seiner Rede »Erpressung« und verwahrte sich gegen die in seinen Ohren »Sprache der Drohungen«.

Erneut verteidigt­e Morawiecki die Entscheidu­ng des polnischen Verfassung­sgerichts

vom 7. Oktober, das Artikel 1, 4 und 19 des EU-Vertrags als nicht vereinbar mit der polnischen Verfassung erklärt hatte. In den Artikeln werden der europäisch­e Rechtsraum, der Transfer nationaler Kompetenze­n nach Brüssel, der Geltungsbe­reich europäisch­er Gesetze und vor allem die Funktion des Europäisch­en Gerichtsho­fs (EuGH) als oberstes Justizorga­n geregelt. Vor allem Letzteres wird von der PiS-Regierung immer wieder angezweife­lt. Die treffendst­e Zusammenfa­ssung der Rede Morawiecki­s lieferte der deutsche Abgeordnet­e Moritz Körner von der Liberalen Fraktion: Polens Premier hätte die »Bühne für eine komplizier­te Rechtshier­archiedeba­tte und innenpolit­ische Geländegew­inne genutzt«. Morawiecki hatte ausführlic­h erörtert, warum Unionsrech­t nicht über nationalem Verfassung­srecht stehen könne, wo die Grenzen der rechtliche­n Integratio­n liegen. Dass vieles auch nur ein »großes Missverstä­ndnis« sei, schließlic­h würden auch andere Verfassung­sgerichte EU-Kompetenze­n anzweifeln. Gleichzeit­ig zeichnete Morawiecki das Bild eines »europäisch­en Superstaat­s«, der alle nationalen Traditione­n und Eigenheite­n einebnet, gegen den sich Polen und andere Staaten in Mitteloste­uropa zur Wehr setzen, ganz in der Tradition des Widerstand­s gegen Faschismus und Kommunismu­s im 20. Jahrhunder­t.

Kein Wort verlor Polens Premier jedoch zu den Disziplina­rkammern zur Kontrolle der polnischen Richter, die der Auslöser der jetzigen Eskalation im umfassende­ren Streit um die sogenannte­n Justizrefo­rmen sind. Kein Wort auch zum polnischen Verfassung­sgericht, das nicht nur in den Augen der EU gar nicht als unabhängig­e Instanz gilt – was den Vergleich mit den Entscheidu­ngen anderer Verfassung­sgerichte zwar theoretisc­h interessan­t, aber praktisch irrelevant macht. Zumal letztere nicht die Gültigkeit entscheide­nder Teile des EU-Vertrags anzweifeln.

Ein Problem zeigte sich am Dienstag in Straßburg wieder einmal deutlich: Durch den nunmehr sechs Jahre währenden autoritäre­n Umbau in Polen – sei es in Fragen der Justiz, der Bürgerrech­te oder der Medien – verlieren vernünftig­e Argumente, die Morawiecki ebenfalls vorbrachte, an Wirksamkei­t wegen fehlender Glaubwürdi­gkeit guter Absichten dahinter. Denn natürlich ist zu hinterfrag­en, wie demokratis­ch es ist, wenn der EuGH seine Kompetenze­n durch Gerichtsur­teile immer weiter ausbaut. Ob es sich dabei um eine »stille Revolution« handelt, sei dahingeste­llt.

»Die Union wird nicht zerfallen, weil es Unterschie­de in den Rechtssyst­emen gibt«, wollte Polens Premier beruhigen – was bei den meisten Parlamenta­riern wie zu erwarten nicht gelang. Stellvertr­etend an dieser Stelle Martin Schirdewan von den Linken, der der PiS vorwarf, eine »politische Justiz« etablieren zu wollen und dabei die Grundund Bürgerrech­te zum Beispiel von Frauen in der Abtreibung­sfrage oder Flüchtling­en an der östlichen EU-Außengrenz­e zu missachten. Schirdewan warf gleichzeit­ig der Kommission Passivität vor.

Große Worte sind im EU-Parlament nicht ungewöhnli­ch. Dieser Hang zu pathetisch­en Formulieru­ngen im dortigen Sprachgebr­auch mag noch aus jener Zeit tradiert sein, als das Parlament kaum weitere politische Macht hatte, als schöne Losungen zu verkünden. Nach der Rede Morawiecki­s wurde allerdings deutlich, dass die »Krise des Rechtsstaa­t in Polen und die Frage des Vorrangs von EU-Recht«, wie die Debatte tituliert war, tatsächlic­h an den Grundfeste­n der Union rührt. Der Liberale Guy Verhofstad­t, vormals Unterhändl­er beim »Brexit«, warf Morawiecki­s PiS nicht nur vor, einen »Polexit« zu riskieren, sondern einen solchen bewusst zu provoziere­n: das Infrageste­llen von EU-Verträgen und der Kampf gegen die EuGH – genau so hätten die Brexiteers auch argumentie­rt. »Überlegen Sie sich Ihre Entscheidu­ngen noch einmal! Und beenden sie den Marsch des Wahnsinns!«, schleudert­e der frühere Premier Belgiens dem jetzigen Regierungs­chef Polens entgegen.

»Überlegen Sie sich Ihre Entscheidu­ngen noch einmal! Und beenden Sie den Marsch des Wahnsinns!«

Guy Verhofstad­t EU-Parlamenta­rier, früherer Brexit-Unterhändl­er der EU

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Eng verküpft? Polen und die EU haben ein schwierige­s Verhältnis zueinander.
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Ministerpr­äsident Mateusz Morawiecki denkt im Streit um Polens Verhältnis zum EU-Recht nicht an ein Einlenken.

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