Das große Missverstehen
Polens Premier Morawiecki verteidigt Kurs gegenüber EU. Rufe nach Sanktionen
Berlin. Der Druck auf die EU-Kommission wächst, im Streit mit Polens Rechtsregierung um die Rechtsstaatlichkeit weitere Schritte zu unternehmen. Am Dienstag bekräftigte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen vor dem EU-Parlament in Straßburg, dass die EU mit ihren Handlungen verhindern werde, dass Polen die Werte und den Zusammenhalt der Union untergräbt. Sie nannte konkret Vertragsverletzungsverfahren, Verfahren zur Kürzung von EU-Mitteln sowie eine erneute Anwendung des sogenannten Artikel-7-Verfahrens, was im Entzug von Stimmrechten münden kann.
Polens Premier Mateusz Morawiecki verwahrte sich gegen die »Sprache der Bedrohungen und Erpressungen«. Er verteidigte in Straßburg das Urteil des polnischen Verfassungsgerichts vom 7. Oktober, wonach entscheidende Teile des EU-Rechts nicht mit der polnischen Verfassung vereinbar seien. Ob es sich dabei um den Beginn eines juristischen Polexits, einen weiteren Angriff auf Grundlagen der Union oder doch nur um Ausdruck der Vielfalt der Rechtssysteme Europas handelt, was die ganze Aufregung darum zu einem »großem Missverständnis« (Morawiecki) mache, darüber gingen die Meinungen angesichts des breiten Meinungsspektrums im EU-Parlament weit auseinander. Dass der Konflikt um die sogenannten Justizreformen in Polens für die gesamte Union mittlerweile existenzielle Fragen aufwirft, steht dabei außer Frage – zu präsent ist der Brexit. Der Prozess um den Austritt Großbritanniens aus der EU wurde teils von ähnlichen Fragen wie nationaler Souveränität um Verhältnis zwischen Union und Mitgliedsstaaten befeuert.
Morawiecki und weite Teile der konservativen PiS-Partei beteuern immer wieder, dass Polens Platz selbstverständlich in Europa sei. Ein kleiner, aber feiner sprachlicher Schlenker, denn Europa ist nicht gleichbedeutend mit der EU. Dort will die PiS zwar nach eigenen Worten auch bleiben, aber immer mehr Politiker in der EU fordern drastische Konsequenzen von der Kommission.
Deren Präsidentin von der Leyen sah sich am Dienstag mehrfach der Forderung ausgesetzt, »sofort« zu handeln. Vor allem finanziell müsse die Regierung in Warschau unter Druck gesetzt werden, zum Beispiel durch die Aktivierung des neuen Rechtsstaatsmechanismus, wie es unter anderem Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn fordert. »Geld ist ein sehr effizientes Mittel um zu zeigen, dass es uns hier sehr ernst ist mit der Rechtsstaatlichkeit«, sagt Österreichs EU- und Verfassungsministerin Karoline Edtstadler. nd
Die EU streitet mit Polen um die Rechtsstaatlichkeit. Im EU-Parlament verteidigte Polens Premier Morawiecki das polnische Verfassungsgericht, während die Kommission um die nächsten Schritte ringt.
Polens Premier Mateusz Morawiecki wusste, dass er an diesem Dienstagmorgen im EUParlament nicht viel Applaus zu erwarten hatte. Daher konnte er seine Rede zu Beginn der Debatte in Straßburg ruhig und auf seine gewohnt wenig charismatische Art halten – denn außer scharfer Worte von linken bis hin zu konservativen Abgeordneten hatte der PiSPolitiker nichts mehr zu befürchten. Interessierter hatte er zuvor EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zugehört. Die hatte Polen im Plenum mit neuen Verfahren gedroht – und wurde während der Debatte mehrfach aufgefordert, den Ankündigungen nach mehr als zwei Jahren des »Dialogs« nun auch Taten folgen zu lassen. Konkret hatte von der Leyen neue Vertragsverletzungsverfahren, die Nutzung eines neuen Verfahrens zur Kürzung von EU-Mitteln und ein weiteres Artikel-7-Verfahren, das bis zum Entzug der Stimmrechte Polens bei EU-Entscheidungen führen könnte, ins Spiel gebracht. Morawiecki nannte dies in seiner Rede »Erpressung« und verwahrte sich gegen die in seinen Ohren »Sprache der Drohungen«.
Erneut verteidigte Morawiecki die Entscheidung des polnischen Verfassungsgerichts
vom 7. Oktober, das Artikel 1, 4 und 19 des EU-Vertrags als nicht vereinbar mit der polnischen Verfassung erklärt hatte. In den Artikeln werden der europäische Rechtsraum, der Transfer nationaler Kompetenzen nach Brüssel, der Geltungsbereich europäischer Gesetze und vor allem die Funktion des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) als oberstes Justizorgan geregelt. Vor allem Letzteres wird von der PiS-Regierung immer wieder angezweifelt. Die treffendste Zusammenfassung der Rede Morawieckis lieferte der deutsche Abgeordnete Moritz Körner von der Liberalen Fraktion: Polens Premier hätte die »Bühne für eine komplizierte Rechtshierarchiedebatte und innenpolitische Geländegewinne genutzt«. Morawiecki hatte ausführlich erörtert, warum Unionsrecht nicht über nationalem Verfassungsrecht stehen könne, wo die Grenzen der rechtlichen Integration liegen. Dass vieles auch nur ein »großes Missverständnis« sei, schließlich würden auch andere Verfassungsgerichte EU-Kompetenzen anzweifeln. Gleichzeitig zeichnete Morawiecki das Bild eines »europäischen Superstaats«, der alle nationalen Traditionen und Eigenheiten einebnet, gegen den sich Polen und andere Staaten in Mittelosteuropa zur Wehr setzen, ganz in der Tradition des Widerstands gegen Faschismus und Kommunismus im 20. Jahrhundert.
Kein Wort verlor Polens Premier jedoch zu den Disziplinarkammern zur Kontrolle der polnischen Richter, die der Auslöser der jetzigen Eskalation im umfassenderen Streit um die sogenannten Justizreformen sind. Kein Wort auch zum polnischen Verfassungsgericht, das nicht nur in den Augen der EU gar nicht als unabhängige Instanz gilt – was den Vergleich mit den Entscheidungen anderer Verfassungsgerichte zwar theoretisch interessant, aber praktisch irrelevant macht. Zumal letztere nicht die Gültigkeit entscheidender Teile des EU-Vertrags anzweifeln.
Ein Problem zeigte sich am Dienstag in Straßburg wieder einmal deutlich: Durch den nunmehr sechs Jahre währenden autoritären Umbau in Polen – sei es in Fragen der Justiz, der Bürgerrechte oder der Medien – verlieren vernünftige Argumente, die Morawiecki ebenfalls vorbrachte, an Wirksamkeit wegen fehlender Glaubwürdigkeit guter Absichten dahinter. Denn natürlich ist zu hinterfragen, wie demokratisch es ist, wenn der EuGH seine Kompetenzen durch Gerichtsurteile immer weiter ausbaut. Ob es sich dabei um eine »stille Revolution« handelt, sei dahingestellt.
»Die Union wird nicht zerfallen, weil es Unterschiede in den Rechtssystemen gibt«, wollte Polens Premier beruhigen – was bei den meisten Parlamentariern wie zu erwarten nicht gelang. Stellvertretend an dieser Stelle Martin Schirdewan von den Linken, der der PiS vorwarf, eine »politische Justiz« etablieren zu wollen und dabei die Grundund Bürgerrechte zum Beispiel von Frauen in der Abtreibungsfrage oder Flüchtlingen an der östlichen EU-Außengrenze zu missachten. Schirdewan warf gleichzeitig der Kommission Passivität vor.
Große Worte sind im EU-Parlament nicht ungewöhnlich. Dieser Hang zu pathetischen Formulierungen im dortigen Sprachgebrauch mag noch aus jener Zeit tradiert sein, als das Parlament kaum weitere politische Macht hatte, als schöne Losungen zu verkünden. Nach der Rede Morawieckis wurde allerdings deutlich, dass die »Krise des Rechtsstaat in Polen und die Frage des Vorrangs von EU-Recht«, wie die Debatte tituliert war, tatsächlich an den Grundfesten der Union rührt. Der Liberale Guy Verhofstadt, vormals Unterhändler beim »Brexit«, warf Morawieckis PiS nicht nur vor, einen »Polexit« zu riskieren, sondern einen solchen bewusst zu provozieren: das Infragestellen von EU-Verträgen und der Kampf gegen die EuGH – genau so hätten die Brexiteers auch argumentiert. »Überlegen Sie sich Ihre Entscheidungen noch einmal! Und beenden sie den Marsch des Wahnsinns!«, schleuderte der frühere Premier Belgiens dem jetzigen Regierungschef Polens entgegen.
»Überlegen Sie sich Ihre Entscheidungen noch einmal! Und beenden Sie den Marsch des Wahnsinns!«
Guy Verhofstadt EU-Parlamentarier, früherer Brexit-Unterhändler der EU