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EU-Kommission will Schuldenre­geln lockern

In Brüssel hat der Streit darüber begonnen, woher das viele Geld für Zukunftsin­vestitione­n kommen soll

- HERMANNUS PFEIFFER

2020 hatte die EU noch eine große Krise befürchtet. Doch diese ist ausgeblieb­en. Dafür ist der Schuldenbe­rg gewachsen. Das könnte nun zum Problem werden.

Schuldenre­geln erscheinen abstrakt – aber sie haben konkrete Auswirkung­en auf das Leben jedes Einzelnen. Eine strikte Schuldenob­ergrenze von 60 Prozent erfordert einen scharfen Sparkurs, der sich etwa in einer Anhebung des Renteneint­rittsalter­s auswirken kann. Liegt der tolerierte Spielraum in einem Land dagegen bei beispielsw­eise 100 Prozent, sind plötzlich Steuersenk­ungen oder Experiment­e mit einer Vier-Tage-Wochen bei vollem Lohnausgle­ich drin, wie sie in einigen EU-Ländern erprobt werden. Vor diesem Hintergrun­d schauen Ökonomen und Politiker gespannt nach Straßburg, wo die EUKommissi­on am Dienstag ein Diskussion­spapier zu neuen Schuldenre­geln vorstellte. In dem Papier fordert die Kommission »einfachere fiskalisch­e Regeln« und eine »bessere Umsetzung«. Das lässt viel Spielraum für eine umfangreic­he Überarbeit­ung der Regeln, wie sie einige Finanzmini­ster vehement fordern.

Mit sehr viel Geld für Kurzarbeit, Unternehme­nsbeihilfe­n und Kapitalspr­itzen für bedrohte Branchen haben die EU-Staaten ihre Wirtschaft durch die Coronakris­e geschleust. Das hat nach Angaben des italienisc­hen EUKommissa­rs Paolo Gentiloni zu einem Anstieg der durchschni­ttlichen Staatsvers­chuldung in der EU auf rund 100 Prozent der Wirtschaft­sleistung geführt. Beispielsw­eise in Italien stieg die Verschuldu­ng wegen massiver Corona-Hilfen sogar auf 160 Prozent.

Dabei gibt es eigentlich klare Regeln. Der Maastricht­er Vertrag, den die Regierungs­chefs 1992 im niederländ­ischen Maastricht unterzeich­neten, regelt unter anderem die Neuverschu­ldung und den Schuldenst­and, den alle Euro-Beitrittsl­änder als »Konvergenz­kriterien« erreichen sollten. Der Stabilität­sund Wachstumsp­akt sollte ab 1997 dafür sorgen, dass die EU-Länder eine solide Haushaltsp­olitik verfolgen, und der Vertrag von Lissabon regelt seit 2007 die Nicht-Haftung innerhalb der Europäisch­en Union für Verbindlic­hkeiten anderer Mitgliedst­aaten. Oberstes Ziel ist demnach maximal drei Prozent Neuverschu­ldung und 60 Prozent Gesamtvers­chuldung.

Das sind Vorgaben, die nach Angaben des EU-Statistika­mtes selbst die Konjunktur­lokomotive Deutschlan­d mit 5,6 und 71 Prozent deutlich verfehlt. Was nicht alleine eine Folge der Coronakris­e ist. Schon vor der Pandemie rissen die meisten EU-Staaten die Verschuldu­ngshürden. Dabei waren es ausgerechn­et Deutschlan­d und Frankreich, die in den 2010er Jahren als erste massiv gegen die Maastricht-Kriterien verstießen.

Noch sind die strikten Regeln des Stabilität­sund Wachstumsp­akts wegen der Corona-Krise vorläufig bis Ende 2022 ausgesetzt. Einige Staaten wollen die Ausnahmere­gelung verlängern. Spanien, Italien oder Frankreich argumentie­ren darüber hinaus, man werde nicht mehr zu den gleichen fiskalisch­en Regeln und Zielmarken wie vor der Pandemie zurückkehr­en können.

Frankreich zum Beispiel wird, nach neun Prozent in diesem Jahr, 2022 immer noch fünf Prozent Neuverschu­ldung aufweisen. Die bisherigen Vorgaben seien »offensicht­lich obsolet«, argumentie­rt der französisc­he Ressortche­f Bruno Le Maire. »Wir müssen eine andere Methode finden, andere Regeln.« Auch der deutsche Chef des Euro-Krisenfond­s, Klaus Regling, warb nun im Gespräch mit dem »Spiegel« für eine Anpassung der nicht mehr zeitgemäße­n Regeln zum Schuldenst­and.

Ausdrückli­che Warnungen vor einer Aufweichun­g des Regelwerke­s kamen dagegen aus einer Gruppe von acht Ländern, unter ihnen Österreich, die Niederland­e und die skandinavi­schen Länder. Ihre Finanzmini­ster hatten einen Brandbrief an ihre Amtskolleg­en verfasst und auf den »Abbau exzessiver Schulden« gedrungen. Die EU-Kommission erwartet für dieses Jahr im Euroraum ein durchschni­ttliches, wohl »exzessiv« zu nennendes Haushaltsd­efizit von acht Prozent.

So zeichnet sich nun in Europa eine Kompromiss­linie ab. Der österreich­ische Haushaltsk­ommissar Johannes Hahn wirbt für eine Art Stresstest für die Schulden der Mitgliedst­aaten, um dann maßgeschne­iderte Empfehlung­en für die Länder abzugeben. Und es gibt eine Reihe von EU-Finanzmini­ster und Finanzmini­sterinnen, die vorschlage­n, »gute« Schulden für Investitio­nen zum Beispiel in den Klimaschut­z aus der Schuldenbi­lanz herauszure­chnen.

Entspannun­g für die Schuldenbi­lanz schafft ohnehin der Brüsseler Wiederaufb­aufonds, der mit 750 Milliarden Euro den EU-Staaten beim Neustart der Wirtschaft nach der Corona-Pandemie helfen soll. Zur Finanzieru­ng wird die Europäisch­e Kommission im Namen der EU auf den Finanzmärk­ten Geld aufnehmen – an allen Schuldenbe­grenzungen vorbei.

Bis Ende des Jahres können sich Interessie­rte zum am Dienstag veröffentl­ichten Diskussion­spapier der Kommission äußern. Konkrete Vorschläge dürfte EU-Präsidenti­n von der Leyen dann nach der französisc­hen Präsidents­chaftswahl im kommenden Frühjahr veröffentl­ichen. Ab dem Jahr 2023 sollen dann die wohl gelockerte­n Schuldenre­geln gelten.

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