Der Dokumentarfilm »Walchensee Forever« erzählt eine turbulente Familiengeschichte aus Sicht der Frauen
Wonders hat mit »Walchensee Forever« eine große emotionale wie filmische Leistung vollbracht. Sie lässt die Kamera laufen, wo andere Töchter wegsehen, weil sie den Schmerz und die Scham, die Brüche und gut gehüteten Familiengeheimnisse nicht ertragen können. Ihre Mutter Anna ist ihre Verbündete – mit eigener Agenda. Ein Großteil des Films ist aus ihrer Perspektive erzählt, und sie ist schonungslos mit allem, was die Familie ausmacht, offenbart aber auch die mit Worten nur schwer zu beschreibende Verbindung der Schwestern zueinander.
Durchbrochen wird ihre Erzählung von einer Schlüsselszene, in der Janna Wonders, damals noch Teenagerin, die Kamera gnadenlos draufhält, während ihre Oma Norma ihre Mutter Anna kleinmacht, weil sie ihr, dem unbeständigen Blumenkind, die Leitung
des Cafés nicht zutraut. »Wer bist du denn? Du bist eine 1,60 Meter kleine Frau. Wenn du das kannst, kann ich das auch!«, antwortet Anna, und die Emanzipationsgeschichte dreier Frauen-Generationen bricht aus ihr heraus. Die Szene ist zutiefst bewegend, zeigt sie doch, was in dem Film erst nach und nach deutlich wird: Die Männer im Leben der Werner-Frauen sind, obwohl stets dominante Persönlichkeiten, nur Nebenrollen und konnten das Wesen der Frauen nie bestimmen.
Die schonungslose und unerbittliche Selbstbefragung, der Mut, sich und andere mit Leerstellen und Schwächen zu konfrontieren, ein Erbe der 68er, sind es auch, die den Film zum dokumentarischen Juwel machen. In den 100 Jahren, die der Film abdeckt, wird sehr deutlich, welch langen und schmerzhaften Weg die Frauen in der Familie vom fremdbestimmten Leben, gebaut auf Erwartungs- und Leistungsdruck, gekommen sind.
Am Ende sehen wir die drei Generationen zum ersten Mal zusammen: Anna, Norma und Janna in Normas Zimmer. Sie hat den Walchensee nie verlassen. Der See und die Mutter sind die einzigen Konstanten im Leben der rastlosen Töchter Anna und Frauke geblieben. Anna zieht ihrer Mutter das Nachthemd an, Janna kämmt ihrer Oma die Haare. Es herrscht das erste Mal absoluter Frieden im Hause Werner, und ein Satz von Anna hallt nach: »Sobald Wut hochkommt, ist noch keine Freiheit da.«
Der Deutsche Buchpreis geht dieses Jahr an Antje Rávik Strubel für ihren Roman »Blaue Frau«. Zum Auftakt der Frankfurter Buchmesse wurde dieser Preis am Montagabend für den »Roman des Jahres« vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels vergeben.
»Das Thema ist herb, das Lob groß«, fasst die Deutsche Presse-Agentur zusammen. Es geht in »Blaue Frau« um die Erinnerung an eine Vergewaltigung: Eine junge Frau aus Tschechin sitzt ohne Geld in einer winzigen Wohnung in Helsinki und überlegt, ob sie ihren Vergewaltiger noch ein Jahr später anzeigen soll. Dafür gibt es Organisationen, die einem dabei helfen. Sie müsste eine E-Mail schreiben, doch sie zögert. Und kämpft mit ihren Erinnerungen, die sie nicht richtig ordnen kann.
Es sei ein »aufwühlender Roman«, befand die Jury: »In einer tastenden Erzählbewegung gelingt es Antje Rávik Strubel, das eigentlich Unaussprechliche einer traumatischen Erfahrung zur Sprache zu bringen.« Das stimmt. Von allen fünf Romanen, die auf der Shortlist des Buchpreises standen, ist dies der am meisten kunstvoll erzählte, mit verschiedenen
Zeitebenen, Einblendungen und Vorschauen. Bis auf »Zandschower Klinken«, eine spinnerte Ost-Story von Thomas Kunst, war das eine sehr konventionelle Konkurrenz. Denn so ein Gewinnerbuch muss kommensurabel sein, nicht zu schwer, aber auch nicht zu blöd.
Am lustigsten war »Identitti«, der erste Roman von Mithu Sanyal, eine polemische Komödie über das Laberland in Universität und Internet, in dem es »auch um das Lieblingsthema des deutschen Feuilletons: die sogenannte Cancel Culture und Identitätspolitik« geht, wie Nelli Tügel in dieser Zeitung schrieb. Am politischsten war allerdings der stilistisch konventionellste Roman: »Eurotrash« des stets unter Dekadenzverdacht veröffentlichenden Christian Kracht, der auch schon auf der Shortlist des Leipziger Preises gestanden hatte. Kracht liefert hier ein brillantes Sittenbild der Macken und Müdigkeiten der Bourgeoisie, durchaus biografisch inspiriert: Der Vater von Christian Kracht heißt auch Christian Kracht und war stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender des AxelSpringer-Konzerns. Das Buch sollte sich jede linke Gruppe als Schulungsmaterial besorgen, wie übrigens auch »Johann Holtrop« von Rainald Goetz.
In »Blaue Frau« geht es dagegen um die Probleme des ökonomisch auf Dauer gestellten Ost-West-Konflikts. Zuerst denkt man, alle totalitarismustheoretische Schuld würde der untergegangenen Sowjetunion zugeschoben, wie es der Liebhaber der Hauptfigur Adina, ein estnischer Politikprofessor und Diplomat, predigt. Doch dann ist es das westliche Europa, in dem Adina droht verloren zu gehen. Den Professor lernt sie in dem Hotel kennen, in dem sie arbeitet bzw. ausgebeutet wird. Sie begleitet ihn auf einen EU-Empfang und hört dann hinter sich ein Räuspern. »Das Räuspern war schütter und leise. Ein trockener Automatismus aus einer Kehle ohne Fleisch. Ein Geräusch, das vom Tod kam.« Es ist der Mann, der sie vergewaltigt hatte, als sie in Deutschland war, als Praktikantin bei einem obskuren OstWest-Projekt in der Uckermark. Er war dort zu Besuch gewesen, ein »uralter Mann in Turnschuhen«, ein »Multiplikator«. Das Räuspern war ihr damals als Erstes aufgefallen. Der Anfang einer Katastrophe, über die sie nicht sprechen kann.
Aber wer ist die »Blaue Frau«? Eine Figur, die zwischendurch auftaucht, wie verloren in Gedanken, und darüber spricht, wie man sich artikuliert. Anfänglich denkt man, sie spreche mit Adina. Aber dann wird klar, sie fordert Antje Rávik Strubel auf, dieses Buch zu Ende zu schreiben. Nicht zu einem guten Ende, sondern zu einem guten Buch.