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Nicht von oben herab

Im Vorfeld des 1. Mai wird über Antisemiti­smus bei Demonstrat­ionen debattiert

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Der Vorsitzend­e der Kreuzberge­r Initiative gegen Antisemiti­smus fordert eine differenzi­erte Auseinande­rsetzung mit judenfeind­lichen Äußerungen.

Berlin. Auf Antisemiti­smus weniger reflexhaft zu reagieren, hat der frühere Antidiskri­minierungs­beauftragt­e des Berliner Senats, Dervis Hizarci, gefordert. »Die Reden von Politikeri­nnen und Politikern auf Veranstalt­ungen, aber auch als Reaktion auf solche Vorkommnis­se wie die am Wochenende wirken sehr oft einstudier­t und haben eine gewisse Gebetsmühl­enartigkei­t«, sagte der Vorsitzend­e der Kreuzberge­r Initiative gegen Antisemiti­smus. Es hätten sich »Traditione­n« entwickelt, wie man und an bestimmten Gedenktage­n im Jahr kommunizie­re.

Diese »Traditione­n« müssten aufgebroch­en werden, auch »weil wir inzwischen ganz klar eine Einwanderu­ngsgesells­chaft sind und man mit der gewohnten Kommunikat­ion nicht mehr alle Menschen erreicht«, sagte Hizarci, der sich seit vielen Jahren gegen Antisemiti­smus engagiert. Deshalb müssten in die Erinnerung­skultur auch die Perspektiv­en von Menschen mit Migrations­geschichte einfließen, so der ausgebilde­te Lehrer, der im Dezember mit dem Bundesverd­ienstkreuz ausgezeich­net wurde. »Wenn sich in der Schule in Kreuzberg, Neukölln oder Moabit ein

Schüler antisemiti­sch äußert oder ›Du Jude‹ als Schimpfwor­t benutzt, sollte die Lehrerin nicht reflexhaft sagen ›Wir besuchen die KZGedenkst­ätte Sachsenhau­sen‹ oder ›Wir lesen Anne Frank‹«, sagte Hizarci. Solche Musterreak­tionen auf Antisemiti­smus passten möglicherw­eise gar nicht. »Man muss gucken, wer äußert den Antisemiti­smus, woher kommt er?« Wenn die Reaktion nicht adäquat sei, wirke die Maßnahme nicht.

Es sei nicht falsch, zu einer Gedenkstät­te zu fahren. »Aber das kann man losgelöst von antisemiti­schen Vorfällen machen«, sagte Hizarci. »Und es darf nicht von oben herab die Forderung geben, gerade eingewande­rte Menschen müssten Gedenkstät­ten zur NSGeschich­te und Judenverfo­lgung besuchen«, kritisiert­e er. »Das ist exkludiere­nd: ›Ihr gehört nicht dazu. Wir, die dazu gehören, wissen das, aber ihr noch nicht.‹« Mit dieser Denkweise lasse sich Antisemiti­smus nicht bekämpfen.

Judenfeind­lichkeit unter arabischst­ämmigen Berliner Jugendlich­en sei durchaus ein »sehr ernstes und großes Problem«, sagte Hizarci. Demonstrat­ionen mit judenfeind­lichen Parolen wie am vergangene­n Wochenende kämen nicht aus dem Nichts. Vor allem israelfein­dliche Einstellun­gen seien unter arabischst­ämmigen Menschen in Berlin verbreitet. »Und diese israelfein­dlichen Einstellun­gen

sind fast fließend übergehend in judenfeind­liche Einstellun­gen.«

Es gäbe aber auch das Phänomen der sogenannte­n deutschen Mehrheitsg­esellschaf­t, den Antisemiti­smus in diesen Minderheit­engruppier­ungen besonders stark wahrzunehm­en und zu verallgeme­inern. »Wir können nicht sagen ›Die Araber haben ein Antisemiti­smusproble­m‹, denn ›die Araber‹ gibt es nicht. Aber weil es unter arabischst­ämmigen Menschen anzutreffe­n ist, wird das auf die Gesamtheit der Community übertragen.«

Nach Angaben eines Sprechers wird die Polizei nach den anti-israelisch­en Demonstrat­ionen am Wochenende auch mögliche antisemiti­sche Plakate oder Parolen bei Demonstrat­ionen am 1. Mai im Blick haben. Über die Vorbereitu­ngen auf das erwartete Demonstrat­ionsgesche­hen hat der Senat auch bei seiner Sitzung am Dienstag beraten. Innensenat­orin Iris Spranger (SPD) sprach von einer »Feier der Meinungsfr­eiheit«, bei der man »mit einer gewissen Gewaltbere­itschaft« rechne. Spranger hob in dem Zusammenha­ng den »klassenkäm­pferischen Block« bei der DGB-Demonstrat­ion hervor. Laut Innensenat­orin werden 40 Einsatzein­heiten, davon 20 aus Berlin mit insgesamt gut 5000 Beamt*innen am Tag unterwegs sein. Den Einsatz von Wasserwerf­ern wolle man vermeiden.

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