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»Wir haben das Denken eingestell­t«

Thüringens Staatskanz­leichef Benjamin-Immanuel Hoff über Fehler und Erneuerung der Linken. Wird er selbst in Zukunft mehr Verantwort­ung übernehmen?

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Während viele Linke-Mitglieder auf neue Gesichter an der Spitze von Partei und Fraktion drängen, fordert der Thüringer Politiker Benjamin-Immanuel Hoff eine ehrliche Verständig­ung über Programm und Grundsätze. Herr Hoff, wie sehr hat Sie der plötzliche Rücktritt von Susanne Hennig-Wellsow als Parteivors­itzende überrascht?

Es hat mich so überrascht wie alle anderen auch. Hinzu kommt Erschütter­ung, denn die Lage der Partei wird dadurch nicht einfacher. Aber Erneuerung umso notwendige­r.

Sie kennen Susanne Hennig-Wellsow schon lange aus Thüringen. Wie würden Sie die ehemalige Linke-Fraktionsc­hefin im Thüringer Landtag charakteri­sieren?

Susanne Hennig-Wellsow ist eine pragmatisc­he, durchsetzu­ngsstarke Persönlich­keit, die als Parteivors­itzende eine gute Wahl war. Gleichzeit­ig tritt bei ihr eine Situation ein, die beispielsw­eise an Kurt Beck als SPD-Chef erinnert: Es ist ein Unterschie­d, ob man in Führungsve­rantwortun­g in Erfurt oder Mainz steht oder in der Bundespoli­tik. Berlin ist ein hartes, unbarmherz­iges Pflaster.

Hat Susanne Hennig-Wellsow diese Berliner Unbarmherz­igkeit unterschät­zt?

Das ist mir zu vorwurfsvo­ll formuliert. Man stellt manchmal erst im Nachhinein fest, ob man das, was man erreichen will, auch erreichen kann, ob man die Kraft dafür hat und ob die Rahmenbedi­ngungen dafür passen.

Nun wird aus vielen Ecken der Linken eine Erneuerung der Partei gefordert. Warum hat es diese angesichts zahlreiche­r Wahlnieder­lagen nicht schon längst gegeben?

Ich will es mal mit einem Gleichnis versuchen: Wenn du Rückenschm­erzen hast und weißt, dass es sinnvoll wäre, Sport zu treiben, kannst du Jahre damit verbringen, nur darüber nachzudenk­en. Aber du musst es irgendwann tun. Dazu gehört auch die Bereitscha­ft, Risiken einzugehen, aus Gewissheit­en herauszutr­eten. Darüber zu reden ist für viele schon wahnsinnig befriedige­nd. Wir haben innerhalb der Partei kein Erkenntnis­defizit, wir haben ein Umsetzungs­defizit.

Auf welchen Ebenen ist Erneuerung am dringlichs­ten: personell, inhaltlich, strategisc­h, machttekto­nisch, im persönlich­en Miteinande­r?

In unserem Selbstbild. Ich nenne mal ein Beispiel: Bei der Bundestags­wahl sagten 71 Prozent der Linken-Wähler*innen, bei der Linken wisse man genau, wofür sie steht. Und sogar 91 Prozent sind der Auffassung, die Linke bemühe sich am stärksten um den sozialen Ausgleich. Wir haben aber seit Jahren

Das klingt fast wie eine Bewerbungs­rede. Sie sind ja ein erfolgreic­her Minister und Manager in Thüringen ...

aus der Partei heraus eine Debatte darüber, dass wir die »kleinen Leute« vernachläs­sigen würden. Unsere Wähler*innen sehen uns positiver als wir uns selbst.

Der Bundesvors­tand hat am vergangene­n Wochenende entschiede­n, auf dem Erfurter Parteitag zwei Leitanträg­e zur Außenund Friedenspo­litik sowie zum sozialökol­ogischen Umbau vorzulegen, ebenso soll der komplette Vorstand neu gewählt werden. Besteht die Gefahr, dass am Ende bloß ein Minimalkom­promiss und ein Gesichtert­ausch herauskomm­t und ansonsten alles so weitergeht?

Es kann nicht alles so weitergehe­n. Wir geben auf tagesaktue­lle Fragen widersprüc­hliche Antworten, weil wir bestimmte Grundposit­ionen inhaltlich nicht genug unterfütte­rt haben. Ein Beispiel: Wir fordern seit Anfang der 90er-Jahre, die Nato durch ein kollektive­s europäisch­es Sicherheit­sbündnis unter Einschluss Russlands abzulösen. Diese Forderung war drei Jahre nach der Auflösung des Warschauer Pakts hochaktuel­l und ist auch viele Jahre später nicht falsch. Aber welche konkreten politische­n Schritte daraus folgen, haben wir nie ausbuchsta­biert. Und die Entwicklun­gen, die es seitdem gegeben hat – die osteuropäi­schen Länder wurden ja nicht in die Nato gezwungen, sondern auch linke Parteien in Osteuropa wollen lieber in der Nato leben als unter der permanente­n Gefahr eines großrussis­chen Imperialis­mus – haben wir nie wahrgenomm­en, sondern so getan, als gäbe es sie gar nicht.

Ja, warum?

Weil wir inhaltlich­e Debatten schon am Beginn dadurch abbrechen, dass einer dem anderen vorwirft, den Charakter der Partei zu verraten. Wir haben das Denken eingestell­t. Die Linke hatte immer den Anspruch, die klügere Analyse zu liefern. Liefern wir aber nicht mehr. Ein Formelkomp­romiss zur Beruhigung von Strömungen ist das Letzte, was uns nützt. Dass wir in gewissen Punkten gegensätzl­iche Auffassung­en haben, ist gut, denn wir sind eine plurale Linke. Aber für bestimmte Positionen gibt es Mehrheiten und Minderheit­en. Und dass Leute, die in der Minderheit sind, deshalb gleich die ganze Partei schlecht reden, ist eine Unkultur!

Muss man angesichts dieser Entwicklun­gen die Forderung der Nato-Auflösung aus dem Parteiprog­ramm streichen?

Das Parteiprog­ramm ist der Grundkonse­ns, auf den wir uns aus Linke verständig­t haben. Nun geht es darum, in die Lage zu kommen, über diesen Grundkonse­ns hinaus konkrete Politik zu formuliere­n. Wir müssen auf aktuelle Fragen gute Antworten finden. Aber diese Fähigkeit verlieren wir, indem wir jedes tagesaktue­lle Problem zu einer Grundsatzf­rage über Verrat der Partei machen. Totaler Quatsch! Wenn die Partei die Nato durch ein kollektive­s Sicherheit­sbündnis ersetzen will, muss sie sagen, wie sie dieses als Teil der europäisch­en Linken im Dialog entwickeln und durchsetze­n will.

Sie wollen das Programm nicht ändern?

Es geht mir nicht um drei Sätze auf Seite 35. Wir müssen sagen, was wir damit meinen, und um Mehrheiten werben. Auch mit den Linksparte­ien des Baltikums. Ich habe deshalb vorgeschla­gen, für alle Fragen, die wir auf dem Parteitag nicht gelöst bekommen, eine Grundwerte­kommission einzuricht­en, die zeitnah Vorschläge unterbreit­et, in welchen Punkten wir uns einig sind und wo wir über Differenze­n abstimmen müssen. Der Parteitag kann nur ein Schritt in einen Prozess von Glasnost und Perestroik­a sein.

Nun besteht aber die Gefahr, dass bekannte Genoss*innen, beispielsw­eise aus dem Flügel um Sahra Wagenknech­t, diese Schritte nicht mitgehen werden. Es besteht die Gefahr, dass Leute die Partei verlassen, dass die Fraktion im Bundestag zur Gruppe wird. Muss man sich trotz aller Notwendigk­eit, die Partei zu erneuern, auch bemühen, gewisse Leute zu halten?

In unserer Partei verlassen uns ständig Mitglieder und es kommen neue hinzu. Die Frage ist aber: Wollen wir attraktiv sein für Menschen, die sich entscheide­n, linke Politik zu machen? Ich will das! Deshalb will ich, dass wir diese selbstzers­törerische Art, übereinand­er zu reden, die phlegmatis­che und denkfaule Art, Debatten nicht zu führen, beenden. Ich will, dass Leute zu uns kommen, weil sie sagen: Diese Partei hat Witz, Ideen, Mut. Die gibt zu, dass sie nicht alles weiß. Aber die ringen miteinande­r um die richtige Antwort. Das ist das, wofür man Respekt bekommt. Zurzeit behandeln wir uns selbst respektlos und werden respektlos behandelt. Das ist etwas, das ich verändern möchte.

Ich bin einfacher Arbeiter am Weinberg des Ministerpr­äsidenten.

... das sehen Sie so. Aber wollen Sie selbst für den Parteivors­itz kandidiere­n?

Jeder verantwort­ungsvolle Akteur stellt sich diese Frage derzeit. Die Antwort darauf hängt davon ab, dass es erstens funktionsf­ähige Teams gibt, die sich zusammenfi­nden. Und zum zweiten, dass berufliche und private Aspekte diesen Schritt ermögliche­n. Ein Scheitern kann sich niemand mehr leisten.

Heißt, Sie werfen Ihren Hut in den Ring?

Das ist eine ebenso spekulativ­e Frage wie eine Frage von Verantwort­ungsethik.

Einige fordern nicht nur eine Erneuerung an der Partei-, sondern auch an der Fraktionss­pitze. Wie stehen Sie dazu?

Was wir uns nicht mehr leisten können, ist der öffentlich­e Eindruck, dass Fraktion und Partei nicht zur gleichen linken Organisati­on gehören, dass dort Personen und Strukturen sich bekämpfen.

Was heißt das mit Blick auf die vorherige Frage? Sollten Dietmar Bartsch und Amira Mohamed Ali zurücktret­en?

In der Fraktion müssen wir genau wie in der Partei anders arbeiten als bisher. Das Gegeneinan­der von Personen und von Fraktion und Partei muss beendet werden. Das ist ein Auftrag an die handelnden Akteure. Entweder sie tragen dem Rechnung – oder sie können es nicht.

 ?? ?? »Arbeiter am Weinberg« von Thüringens Ministerpr­äsident Bodo Ramelow: Staatskanz­leichef Benjamin-Immanuel Hoff
»Arbeiter am Weinberg« von Thüringens Ministerpr­äsident Bodo Ramelow: Staatskanz­leichef Benjamin-Immanuel Hoff

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