Hirn-Yoga mit Heidi Klum
Über manche Themen erfahren wir mehr, als uns lieb ist – trotz ihres geringen Nachrichtenwertes. Und über andere, wichtige Dinge hören wir nichts. Diese Marktlogik der Medienbranche ist riskant, meint Sheila Mysorekar
Es gibt Dinge, die sich gegen meinen Willen in mein Hirn gebrannt haben: Das Foto des englischen Prinzen Andrew, mit einem Arm um die Taille einer minderjährigen Blondine, dabei in die Kamera grinsend. Oder das Muah-Muah-Geräusch, wenn Heidi Klum Luftküsschen verteilt. Oder der süffisant-arrogant-überhebliche Gesichtsausdruck von Friedrich Merz, wenn er bei Talkshows eloquente Frauen betrachtet. Alles Dinge, die ich nie erfahren wollte. Es gibt ein Areal in meinem Gedächtnis, wo solche überflüssigen Informationen abgespeichert sind. Leider.
Manchen Meldungen mit geringem Nachrichtenwert, die mit einer umso höheren Frequenz in unseren Feed gespült werden, können wir einfach nicht ausweichen. Ich bin gar nicht auf Instagram, aber trotzdem haben sich Sophia Thomallas Tattoos in mein Bewusstsein geschlichen. Wer ist daran schuld, möchte ich gerne wissen.
Wir erfahren alles über eine Ohrfeige, die der US-amerikanische Schauspieler Will Smith bei der Oscar-Verleihung einem Comedian gegeben hat. Und dann noch alles über eine weitere Ohrfeige, die der Möchtegern-Comedian Oliver Pocher von irgendwem bekommen hat, sicherlich verdient. Aber mal ernsthaft: Interessiert das irgendwen außer Pocher selbst?
Es gibt Skandale, die wesentlich größer sind als Ohrfeigen von Prominenten und für sie: zum Beispiel die Tatsache, dass die FDP immer noch verhindert, dass auf deutschen Autobahnen Tempo 130 eingeführt wird. Ein Skandal ist auch, dass der jüngst veröffentlichte Bericht des Weltklimarats IPCC mehr oder weniger totgeschwiegen wird. Der IPCC sagt da in aller Deutlichkeit, dass es nur noch einen »begrenzten Zeitraum« gebe, in dem wir den Planeten retten können. Wo sind die Schlagzeilen? Die täglichen Updates? Die Insta-Stories? Viele schwerwiegende Entwicklungen werden von der deutschen Presse schlicht ignoriert, weil sie sich nicht in der unmittelbaren geografischen Nachbarschaft abspielen.
Hat irgendwer mitgekriegt, dass sich die größte Demokratie der Welt langsam, aber sicher in einen faschistischen Staat verwandelt? Die Rede ist hier nicht von den USA, obwohl es auch dort aussieht, als würde Donald Trump bei den nächsten Wahlen wieder antreten. Aber nein, ich meine Indien. Premierminister Narendra Modi gehört einer radikalen Hindupartei an, die seit Jahrzehnten daran arbeitet, das Land in einen hinduistischen Gottesstaat zu verwandeln. Fanatische
Politiker rufen öffentlich dazu auf, Muslime »auszumerzen«; radikal-hinduistische Mobs drangsalieren muslimische Frauen, und Sicherheitsbehörden bedrohen kritische Journalist*innen. Hindutva-Schlägertrupps prügeln Dalits – früher als sogenannte »Unberührbare« geschmäht – auf den Straßen zu Tode. Gesetze werden dahingehend geändert, religiöse Minderheiten zu benachteiligen. Und die deutschen Medien? Die freuen sich darüber, dass Indiens Wirtschaft so schön brummt – so etwa die »Welt«.
Oder, ganz andere Baustelle: Wer außer Meteorolog*innen interessiert sich dafür, dass sowohl in der Arktis als auch der Antarktis in den vergangenen Wochen die Temperaturen um 30 bis 40 Grad Celsius höher lagen als üblich? Bitte kurz mal innehalten und überlegen, was mit uns wäre, wenn das hier in unseren Breiten passieren würde: Heute haben wir in Köln 18 Grad. Plus 40, das wären 58 Grad. Meine Balkonpflanzen wären dann wohl hinüber. Und nicht nur die.
Natürlich brauchen wir alle Unterhaltung. Nach den Nachrichten über den UkraineKrieg und die Pandemie muss ich auch erst mal Rezepte für das Brotbacken googeln; dabei backe ich gar kein Brot. Aber Rezepte lenken prima ab. Auch Heidi Klums ModelShow kann als Hirn-Yoga entspannen: Wenn ich sie gucke, sinkt meine Hirnaktivität umgehend gen null, und ich schlafe sofort ein. Absolut meditativ.
Doch die wichtigen Themen dürfen dabei nicht zu kurz kommen. Wir können uns nicht mehr den Luxus leisten, Druckerschwärze und Sendezeit für Schwachsinn zu verschwenden. Es geht um unser Überleben, als Antifaschist*innen und als Menschheit und als Planet. Liebe Redaktionsleitungen: Vielleicht sind Zuschauermenge und Klickzahlen gar nicht so wichtig. Gebt uns die notwendigen Informationen, um uns zu retten.