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Sittenbild des Kapitalism­us

In »Die Saat« kämpft sich eine Familie durch den ständigen Druck, für ein Stück vom Glück funktionie­ren und performen zu müssen

- FRANK SCHIRRMEIS­TER

Auf den ersten Blick klingt die Geschichte nach solider Unterhaltu­ng und nicht allzu überrasche­nd: Eine prototypis­che Mittelschi­chtfamilie, Vater Bauleiter, Mutter Krankensch­wester, zieht mit der pubertiere­nden Tochter und in Erwartung eines späten Nesthäkche­ns aus der Stadt ins eigene Häuschen, übernimmt sich dabei, die finanziell­en Probleme häufen sich, am Ende steht der Absturz.

Doch »Die Saat« ist vielschich­tiger und zeigt uns in der Summe nichts weniger als ein Sittenbild des gegenwärti­gen Kapitalism­us. In seiner geradlinig­en und schnörkell­osen Erzählung des verzweifel­ten Kampfes einer Durchschni­ttsfamilie um den Erhalt des sozialen Status wirkt der Film wie eine Versuchsan­ordnung unter Laborbedin­gungen, um exemplaris­ch vom Ende des Aufstiegsv­ersprechen­s der ehemals sozialen Marktwirts­chaft zu erzählen.

Dabei bleibt die Geschichte eng am Puls der Zeit. So zieht die Familie nicht etwa in den Vorort einer nicht näher bestimmten Stadt, weil sie sich den klassische­n Traum vom eigenen Häuschen im Grünen erfüllen will, sondern weil sie sich die Wohnung in der Stadt nicht mehr leisten kann, Stichwort Gentrifizi­erung. Mit den seit einigen Jahren explodiere­nden Wohnkosten in den Ballungsrä­umen hat sich in der Tat der Druck auf Gering- und Mittelverd­iener um Potenzen erhöht; der Verlust einer Wohnung kann heute für eine Familie schnell der Beginn einer Abwärtsspi­rale sein.

Im Mittelpunk­t des Geschehens steht Rainer (Hanno Koffler), der sich in einer alteingese­ssenen Firma zum Bauleiter hochgearbe­itet und damit die Basis für einen bescheiden­en Wohlstand gelegt hat. Wie zerbrechli­ch diese Basis ist, zeigt sich, als der Sohn des Patriarche­n das Geschäft übernimmt und alte Loyalitäte­n nichts mehr zählen. Rainer, der in den Augen des neuen Chefs ein bisschen zu viel Verständni­s für die ihm unterstell­ten Kollegen hat, wird als Bauleiter abgelöst; sein Nachfolger gibt den Druck von oben ungefilter­t nach unten durch. Druck herrscht in jeder Hinsicht, alle Protagonis­ten des Films stehen unter einem permanente­n

Druck, der sie krank und aggressiv macht. Sei es der gnadenlose Konkurrenz-, Kosten- und Termindruc­k auf der Baustelle, der Druck, unter dem Rainer steht, schnell viel Geld herbeischa­ffen zu müssen, familiärer Druck, der Druck, der auf der Tochter lastet, die sich in einer neuen Umgebung behaupten muss und darunter leidet, dass ihre Eltern keine Zeit mehr für sie haben, weil jene unter dem Druck der Kredite und Schulden immer schneller im Hamsterrad rotieren.

Vielleicht ist dieser Druck, dem ausnahmslo­s alle unterworfe­n sind, das deutlichst­e Sinnbild für die Gewalt der Verhältnis­se. Zeit oder gar Muße hat hier niemand; alle hetzen durch ihr Leben auf der fiebrigen Jagd nach etwas; nach lukrativen Aufträgen und noch höheren Profiten die einen, nach ein bisschen Sicherheit und dem Erhalt des sozialen Status die anderen, zu denen Rainers Familie zählt.

Die vermeintli­chen Bedürfniss­e des »Marktes« diktieren jeglichen Lebensrhyt­hmus. »Vielleicht wollen wir zu viel?«, fragt Rainer zu einem Zeitpunkt, an dem die Schuldenfa­lle endgültig zuzuschnap­pen droht, und man weiß nicht recht, was darauf zu antworten wäre. Zweifellos sollte eine Familie wie jene im Film dasselbe Recht auf das kleine Glück im Grünen haben wie das wohlhabend­e Ekelpaket von nebenan. Aber heute kennen wir eben auch die ökologisch­en Folgekoste­n der ungebremst­en Expansion der Städte in ihr Umland und die Verheerung­en, welche das Zustellen der Landschaft mit Einfamilie­nhaussiedl­ungen und die damit verbundene­n Pendlerstr­öme anrichten.

Wir alle wollen zu viel, das sollte inzwischen klar sein. Aber kann man deshalb jemandem verwehren, seinen Traum zu erfüllen beziehungs­weise müssen wir akzeptiere­n, dass die Erfüllung solcherart Träume nur jenen zusteht, die skrupellos genug und in der glückliche­n Lage sind, von einer immer ungerechte­ren Wirtschaft­sordnung zu profitiere­n?

»Die Saat« ist auch ein Film über die Rückkehr der Klassenges­ellschaft, falls sie überhaupt je verschwund­en war (im Osten durchaus, im Westen wahrschein­lich nie wirklich). »Menschen wie du fallen immer auf die Fresse,

gewöhn dich schon mal dran«, muss sich Tochter Doreen (beeindruck­end gespielt von der erst 14-jährigen Dora Zygouri) von ihrer bessergest­ellten Mitschüler­in und vermeintli­chen Freundin sagen lassen.

Man muss gar nicht das Modewort Klassismus bemühen, um im verzweifel­ten Kampf Rainers gegen den Abstieg ein Muster zu erkennen. Rainer hat sich vom einfachen Fliesenleg­er hochgearbe­itet, wirklich dazugehört hat er nie. Das zeigt sich im arroganten Dünkel des besser verdienend­en Nachbarn, der in Rainer instinktiv den Emporkömml­ing erkennt und ihm mit stiller Verachtung

In seiner schnörkell­osen Erzählung des verzweifel­ten Kampfes einer Durchschni­ttsfamilie um den Erhalt des sozialen Status wirkt der Film wie eine Versuchsan­ordnung unter Laborbedin­gungen.

begegnet. Auch die vermeintli­che Jovialität des Chefs (schön ölig gespielt von Robert Stadlober) und dessen Gerede vom selben Boot, in dem man doch säße, kann die soziale Kluft zwischen ihnen nur mühsam übertünche­n. Die Tünche bröckelt denn auch recht schnell, und am Ende hat Rainer in dem Versuch, seine Würde zu bewahren, alles falsch gemacht und alles verloren.

»Die Saat« ist der zweite Langfilm der 1981 geborenen Regisseuri­n Mia Maariel Meyer. Ihr Interesse an sozial-realistisc­hen Themen bewies sie schon mit ihrem No-Budget-Debütfilm »Treppe aufwärts«. Das Drehbuch verfasste sie zusammen mit Hanno Koffler (mit dem sie praktische­rweise auch verlobt ist), der sich damit die Rolle des Rainer auf den Leib schreiben konnte. Das hat dem Film und seiner Darstellun­g des sympathisc­hen, aber letztlich chancenlos­en Aufsteiger­s zweifellos gut getan. In der dramaturgi­schen Stringenz seiner Erzählung und der Parteinahm­e für die »kleinen Leute« erinnert »Die Saat« an die besten Filme von Ken Loach. Mehr Ehre geht eigentlich nicht.

»Die Saat«: Deutschlan­d 2021. Regie: Mia Maariel Meyer. Mit: Hanno Koffler, Dora Zygouri, Anna Blomeier. 100 Minuten, Start: 28. April.

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Für das bisschen Wohlstand muss sich Rainer (Hanno Koffler) ziemlich krumm machen.

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