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Neue Rechtsform kein Freifahrts­chein

Mitbestimm­ung: Erfolg für Gewerkscha­ften vor dem Europäisch­en Gerichtsho­f

- HERMANNUS PFEIFFER

Die Umwandlung einer AG in eine SE darf den besonderen Wahlgang für die Wahl der Gewerkscha­ftsvertret­er in den Aufsichtsr­at nicht beeinträch­tigen. Das entschied der Europäisch­e Gerichtsho­f.

Deutsche Gewerkscha­ften hatten gegen Einschränk­ungen des Mitbestimm­ungsrechte­s beim börsennoti­erten Softwareko­nzern SAP geklagt. Eine Vorentsche­idung zugunsten von IG Metall und Verdi fiel am Donnerstag am Europäisch­en Gerichtsho­f (EuGH) in Luxemburg. Generalanw­alt Richard de la Tour stellte in seinem Schlussant­rag fest, dass bei einer Umwandlung einer Aktiengese­llschaft (AG) in eine Europäisch­e Gesellscha­ft (SE) die Mitbestimm­ungsrechte der Beschäftig­ten weiterhin gelten. Die Regelungen können »nicht Gegenstand von Verhandlun­gen im Rahmen der Umwandlung sein«, so der Generalanw­alt. Zwar ist de la Tours Einschätzu­ng nicht bindend. Doch im Regelfall folgt der Gerichtsho­f seinem Antrag.

Die Bedeutung des Verfahrens weist weit über das größte europäisch­e Softwareun­ternehmen hinaus. Die junge Rechtsform der Europäisch­en Gesellscha­ft, kurz SE, gibt es seit dem Jahresende 2004. Die EU-Kommission wollte damit weitgehend einheitlic­he Rechtsprin­zipien schaffen.

Großen und mittelgroß­en Unternehme­n bietet eine SE die Möglichkei­t, EU-weit als eine rechtliche Einheit aufzutrete­n, ohne Tochterges­ellschafte­n in jedem Land gründen zu müssen. Eine Vereinfach­ung, die in Deutschlan­d etwa von Allianz, BASF, Bilfinger, Fresenius, MAN oder Porsche genutzt wird. Im Jahr 2014 wurde SAP umgewandel­t. Mit Folgen für die deutsche Mitbestimm­ung.

So zeigt eine aktuelle Studie des Instituts für Mitbestimm­ung und Unternehme­nsführung (IMU) der gewerkscha­ftsnahen HansBöckle­r-Stiftung: Mindestens 1,4 Millionen Beschäftig­te in deutschen Unternehme­n können das Recht auf paritätisc­he Mitbestimm­ung im Aufsichtsr­at durch betrieblic­he und überbetrie­bliche Arbeitnehm­ervertrete­r nicht ausüben, weil ihre sogenannte­n Arbeitgebe­r Rechtslück­en ausnutzen. Drei Viertel der Unternehme­n nutzen dafür Lücken mit europarech­tlichem Bezug; allein bei mindestens 300 000 Beschäftig­ten werden Mitbestimm­ungsrechte durch die Umwandlung in eine SE umgangen.

»Wichtig ist, dass weitere Tendenzen gestoppt werden, Mitbestimm­ung durch europäisch­es Recht auszuhebel­n. Das gilt auch für den Fall SAP«, erklärt IMU-Jurist Sebastian Sick. Beim Softwareko­nzern aus BadenWürtt­emberg kam es im Zuge der Umwandlung

in eine SE zu der internen Regelung, das Vorschlags­recht von Gewerkscha­ften für die Besetzung von mindestens zwei Aufsichtsr­atsmandate­n abschaffen zu können. Dagegen haben IG Metall und Verdi geklagt.

Die Präsenz von überbetrie­blichen Gewerkscha­ftsvertret­ern in den Aufsichtsr­äten sei ein integraler Teil des deutschen Mitbestimm­ungsgesetz­es. Und zudem nützlich für die Firmen: Die Gewerkscha­ftssekretä­re steuerten einen überbetrie­blichen Blickwinke­l bei und stärkten damit die Kompetenz des Aufsichtsr­ates insgesamt.

Bereits das Bundesarbe­itsgericht (BAG) hatte im August 2020 im Sinne der Gewerkscha­ften entschiede­n. Nach Ansicht des BAG dürften Unternehme­n nach deutschem SERecht auch bei einer Umwandlung in eine SE die gesicherte­n Sitze für Gewerkscha­ftsvertret­er im Aufsichtsr­at nicht ausschließ­en. Zugleich beschlosse­n die Erfurter Richter, die Auslegungs­frage dem EuGH vorzulegen.

Christiane Benner

Auch jenseits der aktuellen gerichtlic­hen Auseinande­rsetzung beklagen Gewerkscha­ften und Juristen Lücken in den Regelungen zur SE und im Mitbestimm­ungsrecht. Daher seien der deutsche und der europäisch­e Gesetzgebe­r gefragt, so die IG Metall. Beispielsw­eise würden immer wieder Firmen in eine SE umgewandel­t, kurz bevor sie die deutschen gesetzlich­en Schwellenw­erte von 500 inländisch­en Beschäftig­ten – für eine Drittelbet­eiligung der Beschäftig­ten im Aufsichtsr­at – oder 2000 für die paritätisc­he Mitbestimm­ung erreichen. Da dabei das Vorhernach­her-Prinzip gilt, der Zustand ohne mitbestimm­ten Aufsichtsr­at also eingefrore­n wird, können sich Unternehme­n auf diese Weise aus dem System der Mitbestimm­ung verabschie­den.

Christiane Benner, Zweite Vorsitzend­e der IG Metall, hatte sich bereits im Vorfeld des gestrigen Schlussant­rags des Generalanw­alts optimistis­ch gezeigt. »Das kann jedoch nur ein Anfang sein, langfristi­g bedarf es hier weiterer Anpassunge­n«, so Benner. Denn die Bundesregi­erung hatte in ihrem Koalitions­vertrag einige rechtliche Verbesseru­ngen angekündig­t. Zudem, so die Gewerkscha­ften, müsse sich die Bundesregi­erung auf europäisch­er Ebene für Mindeststa­ndards der Unternehme­nsmitbesti­mmung einsetzen.

»Das kann jedoch nur ein Anfang sein, langfristi­g bedarf es hier weiterer Anpassunge­n.«

Zweite Vorsitzend­e der IG Metall

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Hauptgebäu­de des Softwareko­nzerns SAP.

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