Lieferando erhält für die »Totalkontrolle« seiner Beschäftigten den diesjährigen Big-Brother-Award
Sie gehören längst genauso selbstverständlich zum Stadtbild wie jene Restaurants und Imbissbuden, deren Speisen und Getränke sie täglich ausliefern: Beschäftigte auf Fahrrädern, leicht erkennbar an ihren meist orangefarbenen Taschen und Jacken, die sie als Mitarbeiter*innen von Lieferando ausweisen. Das in Deutschland zur yd. yourdelivery GmbH gehörende Unternehmen beschäftigt bundesweit mehrere tausend sogenannte Rider*innen. Neben Rad und Rucksack verfügen alle Fahrer*innen über ein drittes wichtiges Arbeitsmittel, das unverzichtbar für ihren Job ist: ein Smartphone, auf dem die App Scoober installiert ist, die selbst aus dem Lieferando-Universum stammt.
Im Kern ist der Einsatz dieses kleinen Programms nachvollziehbar: Die App dient dazu, die Arbeit der Lieferando-Fahrer*innen zu koordinieren, Aufträge, Bestellungen, Rider*innen und Lieferadressen miteinander zu verzahnen. »Das wäre alles auch nicht so schlimm, das kritisieren wir ausdrücklich nicht, dass es da eine App gibt, die den Fahrerinnen und Fahrern sagt, ihr müsst jetzt zum Restaurant x fahren und die Bestellung bei Familie z abliefern«, sagt Peter Wedde, Professor für Arbeitsrecht an der Frankfurt University of Applied Sciences.
beschäftigt und erklärt, dass die dauerhafte Überwachung der Arbeitsleistung »klar rechtswidrig« sei. Das Problem: Brink ist für Lieferando formal nicht zuständig, da der Mutterkonzern Just Eat Take Away in den Niederlanden sitzt.
Wie fragwürdig Scoober ist, zeigten 2021 Recherchen des Bayerischen Rundfunks (BR). Die Journalist*innen konnten Daten auswerten, die über die App gesammelt werden. Möglich ist dies, weil Mitarbeiter*innen auf Grundlage der Datenschutzgrundverordnung ein Recht darauf haben zu erfahren, welche personenbezogenen Informationen ein Unternehmen über sie speichert. Laut BR-Auswertung werden im Fall von Lieferando pro Liefervorgang 39 Datenpunkte durch die Scoober-App erhoben und gespeichert, offenbar auch personalisiert über Jahre. Im Fall eines Riders wurden über 100 000 Datenpunkte erfasst, gespeicherte Infos reichten teilweise bis 2018 zurück.
Auf die Vorwürfe angesprochen, erklärte Lieferando, der App-Einsatz entspreche den geltenden Datenschutzbestimmungen und sei für den Lieferservice notwendig. Auch finde keine »unerlaubte Leistungs- oder Verhaltenskontrolle« statt.
Arbeitsrechtler Wedde betont in seiner Begründung für die Verleihung des Big-Brother-Awards an Lieferando noch andere strittige Punkte. So liege den Fahrer*innen die Datenschutzerklärung von Lieferando nur auf Englisch vor. »Rechtsenglisch ist keine klare und verständliche Sprache«, wie sie aber von der Datenschutzgrundverordnung vorgeschrieben werde. Problematisch sei außerdem, dass die Scoober-App mit weiteren Diensten verknüpft ist. »Über die App wird eine Reihe von Internettrackern versorgt für Zwecke, die möglicherweise auch legitim sind, wenn man da zum Beispiel Google Maps oder ähnliches einbaut. Dann könnte es sein, dass das gebraucht wird, um etwa die
Routen zu steuern. Es sind aber eine ganze Reihe mehr Tracker, die da Daten übermitteln. Darüber wissen die Fahrer in der Regel nichts«, so Wedde. Die Tracker einfach abschalten dürften die Fahrer*innen laut dem Experten nicht, weil es in Lieferandos Datenschutzerklärung heißt, dann könnte ein Arbeitsrechtsverstoß vorliegen.
Christoph Schink von der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) teilt die Kritik. »Wir haben große Zweifel, ob die von Lieferdiensten verwendeten Apps in dieser Form zulässig sind«, sagt der Referatsleiter Gastgewerbe »nd.DieWoche«. Die Grenze des Zulässigen sei da erreicht, wo Daten erhoben, verarbeitet und gespeichert werden, die für das Geschäft nicht erforderlich sind. Allerdings gebe es auch Fortschritte, manches sei nicht mehr so »wildwestmäßig« wie noch vor wenigen Jahren. Beim Lieferdienst Foodora sei es früher etwa der Fall gewesen, dass Kund*innen bei der Bestellung den Namen der zustellenden Rider*in sehen konnten. »Es muss der Grundsatz der Datensparsamkeit gelten«, sagt Schink.
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