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Venedig war zu der größten Handelsmac­ht im Mittelmeer geworden.

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Nicht neu, aber nach wie vor umstritten ist die Frage, der Jannis Milios nachgeht: Wo ist der Kapitalism­us entstanden? Das ist kein simples historiogr­aphisches Unterfange­n. Denn wer nach der Geburtsstä­tte des Kapitalism­us fragt, so der griechisch­e Marxist und Wirtschaft­swissensch­aftler, muss zuerst bestimmen, was das spezifisch Kapitalist­ische am Kapitalism­us ist. Und diese Bestimmung scheint nicht weniger umstritten als die Frage nach dem Ursprung. In der kürzlich im Dietz-Verlag erschienen­en Studie über die Entstehung­sgeschicht­e des Kapitalism­us stellt Milios eine Reihe von mittlerwei­le klassische­n – marxistisc­hen wie nicht-marxistisc­hen – Ansätzen vor. Von divergiere­nden Auffassung­en vom Kapitalism­us ausgehend, bestimmen diese für dessen Geburtsstu­nde verschiede­ne Orte und Zeiten: Babylon, die griechisch­e Antike, das römische Reich, das feudale England, die englische Großindust­rie, die damals kolonialis­ierten Länder Südamerika­s und das spätmittel­alterliche Mittelmeer konkurrier­en darum, Urstempel des Systems zu sein, das wir viele Jahrhunder­te später fertig vorgefunde­n haben.

Entstehung und Reprodukti­on

Milios bewegt sich in seiner Studie auf zwei Ebenen – einer theoretisc­hen und einer historisch­en. Die theoretisc­he Ebene expliziert die formalen Bedingunge­n, unter denen von etablierte­n kapitalist­ischen Verhältnis­sen die Rede sein kann. Darauf aufbauend unterzieht Milios mehrere Ansätze zur Entstehung des Kapitalism­us einem Crashtest den sie nicht bestehen – die Autor*innen hätten sich geirrt.

Allen herangezog­enen Ansätzen beziehungs­weise Denktradit­ionen – die deutsche historisch­e Schule der Nationalök­onomie, die Weltsystem­theorie, die Brenner-Debatte – gerate nach Milios aus den verschiede­nsten Gründen das spezifisch Kapitalist­ische am Kapitalism­us aus dem Blick, weshalb sie auf eine Überhistor­isierung des Kapitalism­us hinauslauf­en. Am häufigsten begegnet man der Vorstellun­g, Kapitalism­us sei mit dem Unternehme­rtum gleichzuse­tzen, womit jedwede geldvermeh­rende Tätigkeit ohne Weiteres kapitalist­isch wäre. Nur Fernand Braudel, der prominente Historiker der AnnalesSch­ule, ist sich Milios zufolge über den Unterschie­d zwischen kapitalist­ischen und vorkapital­istischen »Unternehmu­ngen« im Klaren,

allerdings vernachläs­sige er die Rolle der Klassenaus­beutung und ihrer jeweils spezifisch­en Formen.

Milios’ Crashtest ist freilich kein rein logischer. Denn mit formalen Bedingunge­n ist hier nicht gemeint, dass der Kapitalism­usbegriff von den realen kapitalist­ischen Verhältnis­sen absehend abgeleitet werden kann. Der Methode der Kritik der politische­n Ökonomie im Sinne Marx’ folgend, versucht Milios vielmehr im theoretisc­hen Teil seiner Studie an den nicht-konjunktur­ellen Faktoren festzuhalt­en, die jede soziale Formation aufweisen muss, um überhaupt als kapitalist­isch verfasst zu gelten. Die theoretisc­he Ebene der Studie verfährt quasi »von hinten nach vorne«: Die Wissenscha­ft schaut sich ihr Objekt in seiner bereits herausgebi­ldeten Gestalt an und bestimmt die gesetzmäßi­gen Merkmale, die ihm seine Reprodukti­on ermögliche­n.

Fürs Untersuchu­ngsobjekt Kapitalism­us sind diese, so Milios: Lohnarbeit als herrschend­e Form der Surplusane­ignung, daraus folgend eine Lohnarbeit­er*innenklass­e, Tauschwert und Geld als Treibkraft der Wirtschaft, Konzentrat­ion der Produktion­smittel in der Hand der Kapitalist*innenklass­e sowie deren Rückzug vom Arbeitspro­zess, freie Konkurrenz und Bindung der individuel­len Kapitale zu gesamtgese­llschaftli­chem Kapital, finanziell­e Existenzwe­ise des Kapitals sowie Herausbild­ung einer spezifisch­en rechtspoli­tischen und ideologisc­hen Instanz und einer ihr entspreche­nden Staatsform.

An diesem Punkt allerdings, da ist Milios sicher, muss die Suche nach der Gesetzmäßi­gkeit enden. Die historisch­e Ebene betritt hier die Bühne: Sobald es nicht mehr um die Reprodukti­onslogik eines bereits vorhandene­n Kapitalism­us, sondern um seine Entstehung­sgeschicht­e geht, ist die konkrete historisch­e Lage, die Konjunktur, unter die Lupe zu nehmen, um neuartige Ereignisse zu untersuche­n. Es gilt hier zu erklären, wie das in unseren Augen fertige Produkt Kapitalism­us einmal nicht fertig war. Wie es also aus der Begegnung verschiede­ner Elemente entstehen konnte, die ihrerseits eine eigene Geschichte aufwiesen und einen anderen Weg hätten nehmen könnten.

Zufall und Notwendigk­eit

Der Kapitalism­us vermöge sich zwar anhand einer Reihe von Bedingunge­n zu reproduzie­ren, er hätte aber nicht eintreten müssen, so Milios’ zentrale These. Seine Entstehung sei durch das Zusammentr­effen einer Reihe von Bedingunge­n möglich geworden, die nur in

der spezifisch­en Konjunktio­n, in der sie einander begegnet sind, den Kapitalism­us zum Ergebnis hatten. Milios zufolge sah das Ganze etwa so aus: Der »vorkapital­istische Geldbesitz­er« begegnet im Venedig des späten 14. Jahrhunder­ts dem »eigentumsl­osen Proletarie­r« in einer einzigarti­gen historisch­en Situation. Zwei bis drei Jahrhunder­te zuvor war Venedig zu der größten Handelsmac­ht im Mittelmeer geworden und damit vom byzantinis­chen Reich nunmehr unabhängig­e Kolonialma­cht. Für ihre Handelsges­chäfte brauchte sie viele Schiffe und musste dementspre­chende Manufaktur­en gründen, die Schiffe, Seile und Münzen für den Handel herstellen.

Zu dem Zeitpunkt kann vom Kapitalism­us noch nicht die Rede sein: Es gibt hier zwar einen – kollektive­n – Geldbesitz­er, den Staat, dieser ist aber noch nicht zugleich exklusiver Produktion­smittelbes­itzer. Denn der andere »Pol«, die eigentumsl­osen Proletarie­r*innen, sind noch nicht vorhanden. Die Lohnarbeit­er*innen in den Manufaktur­en und auf den Handelsrei­sen besitzen Teile der Produktion­smittel, so dass sie keine »vogelfreie­n« Proletarie­r*innen im Sinne Marx’ sind. Dazu werden sie erst in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunder­ts. Die Ausweitung riesiger, staatsverw­alteten Manufaktur­en – vor dem Hintergrun­d der genuesisch-venezianis­chen Kriege, der ökonomisch­en Antagonism­en im Mittelmeer, der Krise des venezianis­chen Kolonialis­mus und der Pest – macht die Lohnarbeit zur dominieren­den Form der Aneignung fremder Mehrarbeit, zur herrschend­en Ausbeutung­sform anhand eines Vertragsve­rhältnisse­s. Zu einem spezifisch kapitalist­ischen Verhältnis wird es nach Milios erst jetzt, wo eine produktion­smittelfre­ie, arbeitende Klasse im großen Rahmen von einer nicht arbeitende­n ausgebeute­t wird.

Parallel dazu etabliert sich das Kapitalver­hältnis in den Handelsrei­sen. Die Geldbesitz­er, die sich staatliche­r Schiffe bedienen

und andere, die eigene private Schiffe besitzen, werden, indem sie eigentumsl­ose Proletarie­r rekrutiere­n, zu Kapitalist­en. Eine weitere Entwicklun­g, die den venezianis­chen Staat in kapitalist­ische Verhältnis­se führt, ist die Entwicklun­g eines komplexen Finanzsyst­ems aufgrund der Kriegsschu­lden. Der Staat Venedigs weist zudem ab dem 14. Jahrhunder­t die spezifisch kapitalist­ische Besonderhe­it auf, die Einwohner*innen des venezianis­chen Gebietes von ihrem sozialen Status absehend auf rechtliche­r Ebene abstrakt gleich zu behandeln. Ebenso kapitalist­isch ist an diesem Staat, dass er langsam einen »unpersönli­chen« Charakter annimmt, indem er sich von der herrschend­en Klasse teilweise verselbsts­tändigt und den ideologisc­hen Effekt einer Neutralitä­t erzeugt, der dem Konsens von unten und der Zustimmung der Bevölkerun­g Vorschub leistet.

Neue Produktion­sweisen

Die geläufige Vorstellun­g innerhalb des traditione­llen Marxismus-Leninismus, der zufolge die Produktion­sweisen mit einer wissenscha­ftlich erschließb­aren Notwendigk­eit in der Geschichte aufeinande­rfolgen, sieht im Kapitalism­us das notwendige Produkt eines gereiften Feudalismu­s. Im Gegensatz dazu plädiert Milios für eine nicht-teleologis­che Auffassung der Abfolge der Produktion­sweisen. Er sieht mithin kein notwendige­s historisch­es Produkt im Kapitalism­us, sondern ein schlicht Zufälliges, dessen singulärer Entstehung­sprozess sorgfältig untersucht und rekonstrui­ert werden muss, ohne allerdings das historisch Entstanden­e auf die Vergangenh­eit zu projiziere­n. Dort, in der Vergangenh­eit, kann man sich die Elemente aussuchen, deren singuläre historisch­e Artikulati­on die Entstehung des betrachtet­en Objekts ermöglicht hat, ohne die »erste« Artikulati­on der Elemente als bereits vorhandene vorauszuse­tzen: Der Geldbesitz­er hat eine andere Geschichte als der eigentumsl­ose Proletarie­r, so dass ihre historisch bedingte Begegnung nicht verdinglic­ht werden darf.

Die Gesetzmäßi­gkeit der »Begegnung« zwischen dem Geldbesitz­er und dem eigentumsl­osen Proletarie­r sei dagegen erst nach dem »Greifen« beziehungs­weise der Verfestigu­ng ihrer zufälligen Begegnung zu suchen. Diese epistemolo­gische Haltung ist auch die von Marx’ Ökonomiekr­itik: Die Gesetzmäßi­gkeit des Kapitalism­us verortet er – wenigstens dort, wo er sich nicht selber im geschichts­teleologis­chen Diskurs verwickelt

– auf der Ebene der Reprodukti­on des Systems, das heißt, auf der Ebene der schon gelungenen, etablierte­n und nun sich wiederhole­nden Begegnung. Mit anderen Worten, die Frage der Gesetzmäßi­gkeit des Systems trifft nicht auf seine Entstehung­sbedingung­en, sondern auf seine Reprodukti­onsbedingu­ngen zu. Milios stützt sich hier auf den Ansatz des französisc­hen Marxisten Louis Althusser. Letzterer hat in seinen Spätschrif­ten eine Materialis­musauffass­ung entwickelt, die sich jeder Art von Teleologie zu entledigen sucht: »Wie jeder Materialis­mus rationalis­tischer Prägung (ist) ein Materialis­mus der Notwendigk­eit und der Teleologie (...) eine abgeändert­e und maskierte Form des Idealismus«, schreibt Althusser.

Frage des Ursprungs

Schließlic­h stellt sich die Frage: Was steht bei Milios’ Anliegen auf dem Spiel? Meines Erachtens zweierlei. Erstens der Versuch, jene passivität­sbejahende Determinis­men, die die Überwindun­g der kapitalist­ischen Ausbeutung als vorgeschri­eben betrachten, zu dekonstrui­eren. Zweitens die Bemühung, die finanziell­e Existenzwe­ise des Kapitals als strukturel­les Merkmal des Kapitalism­us nachzuweis­en, indem er am Beispiel Venedigs die Figur des Geldbesitz­ers und des vorkapital­istischen Kaufmanns- und Wucherkapi­tals als wegbereite­nd für die allmählich­e Einführung kapitalist­ischer Verhältnis­se zeigt. Damit möchte er die lang herrschend­e Vorstellun­g in Frage stellen, die die Rolle des Geldes bei der Entstehung des Kapitalism­us unterschät­zt und letztere auf die Geldanhäuf­ung von wohlhabend­en Bauern sowie Grundbesit­zer zurückführ­t.

Milios’ Studie vermeidet bewusst, auf zeitgenöss­ische Debatten über die behauptete Aktualität und ständige Wiederbele­bung der ursprüngli­chen Akkumulati­on einzugehen – wie beispielsw­eise bei David Harvey und Klaus Dörre. Das wäre jedoch relevant, um sichtbar zu machen, warum die Entstehung­sgeschicht­e des Kapitalism­us nicht nur für Historiker*innen, sondern auch für die heutzutage allerorts Ausgebeute­ten relevant ist. Immerhin wirft Milios’ Studie eine spannende politische Frage auf: Wie tief muss man in der Entwicklun­gsgeschich­te der bestehende­n Verhältnis­se graben, wenn man sie überwinden möchte?

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