Rostocker Forscher über den Zusammenhang von Sozialstatus und Ausbreitung der Pandemie
Sie haben für Deutschland untersucht, wieweit Wohnort, Einkommen und andere sozioökonomische Faktoren Einfluss haben auf das Risiko, sich mit Covid-19 zu infizieren. Was fiel dabei besonders auf? Das auffälligste Ergebnis war die Umkehrung des sozialen Gradienten, den wir im Verlauf der ersten Welle beobachten konnten. Also die Tatsache, dass zunächst Landkreise mit einem höheren sozioökonomischen Status von einer stärkeren Verbreitung der Infektionen betroffen waren und sich dieses Muster mit Beginn des Lockdowns beziehungsweise im Verlauf der ersten Welle umkehrte. Dann waren eher sozioökonomisch schwache Landkreise betroffen. Ein ähnlicher Effekt fand sich auch für die zweite Welle. Auch hier waren mit zunehmender Dauer der zweiten Welle Infektions- und Sterberaten besonders stark erhöht in Regionen mit niedrigem sozioökonomischem Status und mit einem großen Anteil älterer Menschen, die in Pflegeheimen leben.
Was unterscheidet Ihr Herangehen von bisherigen Studien?
Wir haben uns für einen datengetriebenen Ansatz entschieden, das heißt, wir haben eine sehr große Menge an Indikatoren unterschiedlichster gesellschaftlicher Bereiche auf Ebene der Landkreise in unsere Analysen einbezogen und mit einem Algorithmus aus dem Bereich des maschinellen Lernens – ein Bereich der künstlichen Intelligenz – nach statistischen Zusammenhängen zu den Infektionen gesucht. Wir sind nicht die einzigen mit einem solchen Vorgehen, aber viele andere Studien haben ihre Analysen eher auf wenige vorher ausgewählte Einflussfaktoren ausgerichtet. Wir werfen sozusagen einen umfassenderen Blick auf die räumliche Verteilung der Pandemie als bei anderen Studien.
Ich lese heraus, dass soziale Schichten mit hoher Mobilität den Anfang der Pandemiewelle bestimmten. Sie machen das an Urlaubsreisen wohlhabenderer Schichten fest. Spielt also Arbeitsmigration nur eine geringe Rolle?
Der Beginn der ersten Welle hing stark mit der Rückreise der Ski-Urlauber aus Hotspotgebieten zusammen, wie die in unserer Studie enthaltene Information zur Entfernung einer Region vom Skiort Ischgl zeigt. Je weiter weg eine Region von Ischgl ist, desto niedriger waren die Inzidenzen. Dieser Einfluss nahm jedoch mit Fortschreiten der Welle ab und ab April 2020 fanden wir einen verstärkten Einfluss der internationalen Vernetzung, gemessen durch den Saldo der internationalen Zuund Fortzüge in einer Region. Wir vermuten, dass in Landkreisen mit einem höheren Saldo an Zuzügen eine größere Gruppe in systemrelevanten Berufen arbeitet und somit seltener die Möglichkeit zum Homeoffice bestand. Im weiteren Verlauf der Pandemie sehen wir auch erhöhte Inzidenzen in stark landwirtschaftlich genutzten Regionen, was mit dem hohen Infektionsrisiko von Saisonarbeitern in der Landwirtschaft und von Arbeitern in Schlachthöfen zusammenhängt.
Wäre also die sinnvollste Maßnahme der Pandemiebekämpfung möglichst frühzeitige Einschränkung oder zumindest Kontrolle der Reisetätigkeit?
Bei neu auftretenden Pandemien ist dies sicher nicht von der Hand zu weisen. Für die Entwicklung im kommenden Herbst sehen wir eher die Notwendigkeit eines engmaschigen Monitorings des Infektionsgeschehens durch Testen, mit rechtzeitiger Reaktion in Hinblick auf medizinische Maßnahmen wie (Booster-)Impfungen und das Tragen von Masken.
Sehen Sie wesentliche Unterschiede zu anderen Industrieländern?
Unsere Analysen beschränken sich grundsätzlich auf Deutschland und eine Übertragung auf andere Länder mit anderen Alters, Raum- und Sozialstrukturen ist immer mit Vorsicht zu betrachten. Zumal sich auch die ergriffenen Maßnahmen in Art und Zeitpunkt unterscheiden. Aber das Muster starker sozialer Unterschiede im Infektions- und Sterbegeschehen, wie auch die besondere Vulnerabilität der älteren Bevölkerung in Pflegeheimen konnten ähnlich wie in unserer Studie auch für andere Länder identifiziert werden.
Untersuchungen aus Großbritannien und den USA sehen höhere Inzidenzen bei höheren Einkommen, aber mehr schwere Erkrankungen bei geringen. Kommen Sie zu vergleichbaren Ergebnissen?
Da wir in unseren Analysen für die erste Welle lediglich die gemeldeten Infektionen angeschaut haben, können wir keine Aussagen über die Krankheitsschwere treffen. In der zweiten Welle zeigt sich aber ganz klar, dass in Regionen mit niedrigem sozialen Status die Sterblichkeit höher war. Und dieser soziale Unterschied war sogar noch stärker als bei den Infektionen. Dies zeigt eindeutig, dass die Krankheitslast in sozioökonomisch schlechter gestellten Schichten höher ist, was auch mit stärkerer Verbreitung chronischer Vorerkrankungen zusammenhängen kann.