Krieg ist kein Buddelkastenspiel
Nd-Leserin Ilse Richter erinnert sich an den Zweiten Weltkrieg und warnt vor Aufrüstung
Zum 77. Mal jährt sich am 8.Mai das Ende des Zweiten Weltkrieges und damit die Befreiung Deutschlands vom Faschismus. Die Menschen, die diesen Krieg und seine Gräuel miterlebt haben werden immer weniger. Ihre Erinnerungen sind wertvolle Zeitdokumente. Sie mahnen uns, Frieden zu bewahren. Eine von ihnen ist die heute 90-jährige nd-Leserin Ilse Richter.
Sie wurde mit ihrer Familie am 4. Dezember 1943 in Leipzig ausgebombt und zieht dann zu ihren Großeltern ins beschauliche Griesheim an der Ilm, das sie als Kind sehr idyllisch erlebte. Nach den Kriegserfahrungen in Leipzig, nimmt sie die Angst vor Bombenangriffen mit. Sie schreibt:
»Immer hatte ich Angst vor Fliegeralarm. Ständig in mir und vor mir den erlebten Bombenabwurf. Grollen, Krachen, das Schreien aller Bewohner: neun Kinder, vier junge Mädchen, ein schwerhöriger alter Mann, acht Frauen und vielleicht zwei Männer – Schreien, Zittern und Eingeschlossensein. Nur mit fremder Hilfe kamen wir durch ein in die Wand geschlagenes Loch in einen Keller des angrenzenden Hauses. Dann hinaus ins Freie, wo uns gegenüber schon ein Haus von oben bis unten in Flammen stand.«
Zu Kriegsende hält sie sich wieder in Leipzig auf und berichtet von ihrem neuerlichen Wechsel zu den Großeltern, wo sie den Besatzungsmachtwechsel erlebte:
»Leipzig war ab 18. April 1945 von amerikanischen Truppen besetzt. Wir mussten keine Angst mehr vor Bomben haben. Aber wir hatten Hunger.
Ohne Passierschein, mit Hunger und einem halben Brot machten wir uns auf nach Griesheim – zu Fuß drei Tage. Wie die vielen Flüchtlinge und heimkehrenden verwundeten Soldaten erbettelten wir uns unterwegs etwas zu essen und eine Schlafstelle. Zwischen Weimar und Bad Berka war ein kurzes Stück Bahnfahrt möglich. Doch dann ging es irgendwie immer an der Ilm entlang zu Fuß. In einem Dorf wurden wir von amerikanischen Soldaten ausgelacht, als wir den im Dorfkonsum markenfrei erhaltenen Stangenkäse heißhungrig aßen.
Noch ein weiteres Mal haben wir amerikanische Soldaten arrogant erlebt. Und zwar in Griesheim. Es war vermutlich kurz vor dem Besatzungsmachtwechsel. In einer Nacht, zwar schon hell, aber noch Schlafenszeit, wurde an die Haustür gewummert. Zwei amerikanische Soldaten standen verdreckt, verschmiert davor und schrien: ›Horses, Horses!‹ (Pferde, Pferde!) Sie waren mit ihrem Jeep aus Richtung Ilmenau kommend vermutlich bei schnellstem Tempo in hohem Bogen in das sumpfige Gelände oder sogar in die Ilm vor dem Ortseingang gestürzt. Nun sollte mein Großvater mit den Pferden heraushelfen.
Doch die schafften es nicht. Es musste noch ein Bauer mit seinem Trecker hinzukommen. Vermutlich war davon dann das ganze Dorf erwacht. Zwischenzeitlich haben meine Mutter und meine Tante den Amerikanern die Uniformen so gut wie möglich gesäubert und ihnen auch die Haare, den Kopf, gewaschen. Alles ohne Dank.
Der Krieg war aus. Es war eine aufregende, beunruhigende Zeit. Im Radio waren die unterschiedlichsten Meldungen zu hören. Eine davon war: Man sei an hochrangige Vertreter der amerikanischen oder englischen Besatzung herangetreten und habe vorgeschlagen, sie sollen aus ihren Lagern die deutschen gefangenen Soldaten entlassen und mit ihnen nach entsprechender Umerziehung gemeinsam gegen die Russen kämpfen, also den Krieg fortführen.
Diese Äußerungen haben mich furchtbar aufgewühlt und meine Ängste unendlich gesteigert. Jahre danach habe ich mir eingeredet, dass ich das Gesagte missverstanden oder gar nur geträumt habe.
Diese Schrecklichkeit wurde Jahrzehnte später im Fernsehen als wahr bestätigt. Ich konnte und kann es nicht fassen! Bis heute nicht. Und nun muss ich im hohen Alter tagtäglich hören und lesen, dass die Aufrüstungen immer weiter, immer schrecklicher forciert werden. Warum? Krieg ist kein Buddelkastenspiel!
Ich erlebte in Griesheim noch den Besatzungsmachtwechsel. Soldaten der Sowjetarmee kamen auch nach Griesheim. Zuerst kamen Soldaten, dann vier Offiziere. Sie ließen sich von Oma zum Abendbrot Essen kochen, und der ›Chef‹, mein Großvater, musste mit ihnen in der Stube gemeinsam essen.
Später am Abend wurden auch meine Mutter und meine Tante dazu geladen. Wodka gab es auch. Meine Lieben waren sehr verängstigt. Doch der Abend ist so verlaufen, wie ihn sich niemand vorher hätte vorstellen können. Man hat zusammen gesessen und geweint!
Zwei der Offiziere sprachen Deutsch, die anderen ein paar Brocken. Sie hatten aus ihren Brieftaschen Fotos entnommen und gezeigt. Der eine Offizier zeigte ein Bild seines kleinen Jungen, zu Beginn des Krieges geboren, den er noch nie selbst gesehen hatte. Er hatte noch nie einen Urlaub gehabt, in dem er es bis nach Hause geschafft hätte. Ein andere Offizier zeigte das Foto eines Hauses, noch brennend oder schon abgebrannt.
Deutsche Truppen hatten es angezündet. Alle Angehörigen, eine Arztfamilie, waren bei dem Brand umgekommen. Er selbst, ebenfalls Arzt, hat überlebt.
Ja, sie haben wirklich zusammen geweint. Oma weinte um ihre beiden Söhne, die im Krieg gefallen waren, und um ihren Schwiegersohn, meinen lieben Vater, der vermisst war. Schon einmal hatten meine Großeltern die Folgen eines Krieges erdulden müssen: Als junge Leute hatten sie mit ihren fünf kleinen Kindern ihr Dorf an der Weichsel verlassen müssen.
Am Morgen nach dem gemeinsamen Abendessen schilderten meine Großeltern den Nachbarn und Erwachsenen, die vorbeikamen, diesen denkwürdigen Abend. Alle waren zutiefst ergriffen. Und ich bin sicher, dass sie – sofern sie irgendeine Mitschuld an dem fürchterlichen Krieg hatten – das bereuten und sich dafür schämten und so etwas nie wieder zulassen, geschweige denn unterstützen würden.
Als Kind konnte ich nicht verstehen, wenn sich Erwachsene bei Klatsch und Tratsch gegenseitig schlechtmachten. Und nun als Alte ist es für mich unbegreiflich, wie gebildete Menschen ständig Hass schüren, um stetig steigende Rüstungsproduktion zu begründen und um auf etwaige Kriege einzustimmen.
Man hetzt gegen die Nachkommen, deren Vorfahren durch unsere Vorfahren Schlimmstes erleiden mussten. Unser Land sollte als Vorbild vorangehen und die gesamte Rüstungsindustrie einstellen.
Warum wird das nicht massenhaft gefordert? Weil die Jüngeren nicht nachempfinden können und deshalb keine Angst haben? Ich möchte ohne Angst vor menschengemachtem Unheil, vor Kriegen noch ein bisschen weiterleben.«