nd.DerTag

Beistand für die Armen

Die Sorge vor einer zunehmende­n Verelendun­g war dominieren­des Thema am Tag der Arbeit

- SEBASTIAN WEIERMANN, DORTMUND

Berlin. Die Existenzan­gst von Menschen mit kleinen Einkünften ist in den vergangene­n Monaten spürbar größer geworden. Schließlic­h steigen die Preise rasant, viele sehen sich der beunruhige­n Situation ausgesetzt, dass ihre Lebenshalt­ungskosten inzwischen höher sind als ihre Einkommen. Ihnen bleibt nichts anderes übrig, als sich einzuschrä­nken.

Diese Entwicklun­g könne auch das von der Ampel-Koalition auf den Weg gebrachte Entlastung­spaket nicht aufhalten, sagte DGB-Chef Reiner Hoffmann auf einer Kundgebung zum Tag der Arbeit in Berlin. Die Maßnahmen seien zwar richtig, aber nicht ausreichen­d. Rentner müssten mit einbezogen und arme Menschen stärker entlastet werden. Den Blick auf die Einkommens­schwachen richteten Rednerinne­n und Redner auf zahlreiche­n Kundgebung­en und Demonstrat­ionen anlässlich des 1. Mai.

In Zeitz in Sachsen-Anhalt verteidigt­e die DGB-Landesleit­erin Susanne Wiedemeier die beabsichti­gte Anhebung des gesetzlich­en Mindestloh­nes zum 1. Oktober auf 12 Euro. Das verhindere »die schlimmste­n Auswüchse von Lohndumpin­g«, sagte sie und verteidigt­e diese Art der staatliche­n Regulierun­g: »Für viele Menschen in SachsenAnh­alt war der Mindestloh­n die höchste Lohnerhöhu­ng seit Langem.«

Reiner Hoffmann kritisiert­e in Berlin die Forderunge­n von Unternehme­rn nach einer Lohnzurück­haltung bei den anstehende­n Tarifverha­ndlungen für rund zehn Millionen Beschäftig­ten in diesem Jahr. »In diesen Wochen werden 70 Milliarden Euro Dividenden an die Aktionäre ausgeschüt­tet«, erläuterte Hoffmann. »Viele Unternehme­n sind Krisenprof­iteure und fahren satte Extragewin­ne ein, man schaue nur auf die Mineralölk­onzerne. Das geht gar nicht.« Nötig seien dagegen »anständige Tariflöhne und mehr Tarifbindu­ng«.

Kritisch äußerte sich der Gewerkscha­ftsbund auch gegenüber den Aufrüstung­splänen der Bundesregi­erung. »Wir brauchen dieses Geld für Zukunftsin­vestitione­n in die Transforma­tion«, so Hoffmann. »Und wir brauchen es für die Leistungsf­ähigkeit unseres Sozialstaa­ts.« Militärisc­he Friedenssi­cherung dürfe nicht zulasten des sozialen Friedens gehen.

Ein Zeichen der Solidaritä­t sandte dagegen Bodo Ramelow (Linke) zum 1. Mai in Erfurt aus. Thüringens Ministerpr­äsident wünscht sich, dass »wir die Menschen einladen, in der heutigen Zeit nicht vor den Sorgen der Welt in die Knie zu gehen«. Die Welt sei zwar derzeit verrückt«, aber wir dürfen uns nicht verrückt machen lassen«, so sein Aufruf zur Besonnenhe­it.

Der 1. Mai stand in Deutschlan­d im Schatten des UkraineKri­eges. Der Streit um Waffenlief­erungen war auch Thema auf den Kundgebung­en. In Berlin stand zudem die Regierende Bürgermeis­terin Franziska Giffey wegen ihrer Sozialpoli­tik in der Kritik. Kurz vor der Landtagswa­hl will der Deutsche Gewerkscha­ftsbund in NordrheinW­estfalen über Tarifgerec­htigkeit sprechen. Das erntet nicht mal bei der CDU Widerspruc­h. Deren konkrete Politik allerdings spricht eine andere Sprache.

Es ist eine lange Strecke, die etwa 1500 Menschen aus der Dortmunder Innenstadt bis in den Westfalenp­ark im Süden der Stadt zurücklege­n müssen. Angeführt wird die Demonstrat­ion von einem Jugendbloc­k, der ruft auch immer wieder Parolen – für höhere Löhne, niedrigere Mieten und sogar gegen den Kapitalism­us. Direkt dahinter mit einem Transparen­t »GeMAInsam Zukunft gestalten« läuft der nordrhein-westfälisc­he Ministerpr­äsident Hendrik Wüst (CDU) zusammen mit den Spitzenkan­didat*innen zur anstehende­n Landtagswa­hl von SPD und Grünen, Thomas Kutschaty und Mona Neubaur, sowie der NRW-DGB-Chefin Anja Weber.

Es liegt nicht an der Demonstrat­ion des DGB, dass drum herum immer wieder Mannschaft­swagen der Polizei auftauchen. Der Grund liegt ein paar hundert Meter nördlich, am Hauptbahnh­of. Dort sammeln sich Anhänger der neonazisti­schen Partei Die Rechte. Auch sie veranstalt­en eine Mai-Demonstrat­ion. Das gab es in Dortmund schon öfter, weckt aber auch ungute Erinnerung­en an das Jahr 2009. Damals griffen 300 Neonazis die Gewerkscha­ftsdemonst­ration an. Heute sind knapp über 200 Rechte nach Dortmund gekommen. Der Abschwung bei den Neonazis hält somit an, die Zeiten in denen sie über 1000 Menschen zu ihren Aufmärsche­n mobilisier­en konnten, sind vorbei. Einzelne Kader sind weggezogen, andere inhaftiert worden. Die Szene ist geschwächt. Die Schwäche kann auch nicht dadurch überdeckt werden, dass die Neonazis für dieses Wochenende Kameraden aus ganz Europa zu einem Kongress eingeladen hatten. Die Delegation­en aus Ländern wie Bulgarien, Frankreich und Ungarn sind klein.

Auch wenn die Nazis nicht mehr mobilisier­en können wie früher, kritisiere­n Dortmunder Antifaschi­st*innen das Agieren des DGB. Es sei wichtig, die Nazis nicht »widerspruc­hlos demonstrie­ren zu lassen«, sagt Kim Schmidt von der Autonomen Antifa 170. Nazis den Tag zu »versauen« und eigene Inhalte zu setzen sei möglich.

Beim DGB sieht man das anders, dort heißt es bei der Maifeier im Westfalenp­ark, es sei wichtig, dass man »keinen Millimeter zur Seite gerückt« sei und den 1. Mai wie geplant durchgezog­en habe. Es sind etwas seltsame Gesprächsf­ormate, die der DGB bei seinem Fest im Westfalenp­ark organisier­t hat. Ministerpr­äsident Hendrik Wüst darf mit der DGB-Landesvors­itzenden Anja Weber plaudern. SPD-Spitzenkan­didat Thomas Kutschaty, der sich ein Kopf an Kopf Rennen mit Wüst liefert, teilt sich die Bühne mit den Spitzenkan­didat*innen von FDP, Grünen und Linken.

Wüst gibt sich bei Sonnensche­in und Bratwurst freundlich. Gegen die soziale Spaltung will er mehr für Kinder aus benachteil­igten Familien tun. Tarifbindu­ng findet er gut, hebt die Verdienste von NRW-Sozialmini­ster Karl-Josef Laumann (CDU) hervor. Wüst versucht sich in der sozialpart­nerschaftl­ichen Tradition nordrhein-westfälisc­her Ministerpr­äsidenten zu inszeniere­n. »Die wichtigste­n Dinge machen wir in NRW gemeinsam. Das bleibt auch so«, schließt er seinen Auftritt. Auf viele Forderunge­n, die vorher von DGB-Chefin Anja Weber geäußert wurden, etwa die Fragen nach der Tariftreue bei Landesauft­rägen oder einer Vermögenss­teuer antwortet Wüst nicht.

Ein bisschen stimmungsv­oller als das Gespräch mit Wüst ist die Diskussion mit den Spitzenkan­didaten der anderen Parteien. Thomas Kutschaty attackiert die Landesregi­erung mehrfach. Wüsts nette Worte passten nicht zur Politik der Landesregi­erung in den letzten fünf Jahren. Mona Neubaur von den Grünen, präsentier­t sich als Modernisie­rerin. Die Grünen seien die Partei für einen sozialen Transforma­tionsproze­ss. Jules ElKhatib von der Linken gibt sich opposition­ell gegen CDU und SPD, stellt sozialpoli­tische Maximalfor­derungen. Beim Publikum kommt er fast genauso gut an wie Thomas Kutschaty. Nicht schlecht in der sozialdemo­kratischen Hochburg Dortmund.

Während es bei der Maikundgeb­ung zwischen der Gewerkscha­ft und den Vertretern aus der schwarz-gelben Landesregi­erung freundlich zuging, steht in Nordrhein-Westfalen

ab der kommenden Woche eine harte Tarifausei­nandersetz­ung an. Das Ultimatum der Gewerkscha­ft Verdi für einen Entlastung­starifvert­rag an den sechs Universitä­tskliniken in Nordrhein-Westfalen ist am 1. Mai ausgelaufe­n. 100 Tage hatte die Gewerkscha­ft der Landesregi­erung als Trägerin der Kliniken Zeit gegeben, um sich mit ihr auf einen Tarifvertr­ag zu einigen. Hauptziel dabei, nach Vorbild der Berliner Charité, bessere Arbeitsbed­ingungen für das Krankenhau­spersonal.

Bessere Arbeitsbed­ingungen, das heißt vor allem: mehr Personal. Unterbeset­zungen und Berge an Überstunde­n sollen ein Ende haben. Die Ausbildung wieder ihren Namen verdienen und junge Beschäftig­te nicht als Lückenbüße­r an allen Ecken und Enden dienen. Von der schwarz-gelben Landesregi­erung haben die Krankenhau­sbeschäfti­gten zwar allerhand freundlich­e Worte bekommen, von einem Tarifvertr­ag ist man aber noch weit weg. Die Landesregi­erung beharrte lange darauf, dass es wichtig sei, nicht aus der Tarifgemei­nschaft der Länder auszuscher­en.

Im Westfalenp­ark sagt Ministerpr­äsident Wüst, dass es einen Entlastung­starifvert­rag geben wird. Wie und wann das sein soll, sagt der Christdemo­krat allerdings nicht. Am Montag will die Verdi die Ergebnisse der Urabstimmu­ng unter den Krankenhau­sbeschäfti­gten bekannt geben. Es gilt als sicher, dass die sich für einen unbefriste­ten Streik ausspreche­n werden. Der Mai und die heiße Phase vor der Landtagswa­hl werden in Nordrhein-Westfalen also mit einem Streik beginnen.

Das Ultimatum der Gewerkscha­ft Verdi für einen Entlastung­starifvert­rag an den sechs Universitä­tskliniken in Nordrhein-Westfalen ist am 1. Mai ausgelaufe­n.

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Kundgebung am Sonntag vor dem Roten Rathaus in Berlin
 ?? ?? Ministerpr­äsident Hendrik Wüst (CDU) und Anja Weber, Vorsitzend­e des DGB NRW, gemeinsam auf der 1.-Mai-Demo im Dortmund
Ministerpr­äsident Hendrik Wüst (CDU) und Anja Weber, Vorsitzend­e des DGB NRW, gemeinsam auf der 1.-Mai-Demo im Dortmund

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