nd.DerTag

Tauben füttern und streiken

Lohnkämpfe und Proteste in Russland gehen auch in den aktuellen Kriegszeit­en weiter

- EWGENIY KASAKOW

Zum 1. Mai fanden in Russland mehrere Kundgebung­en von Gewerkscha­ften statt – mehr oder weniger offiziell. Die Organisato­ren sprachen sich mal für, mal gegen den Krieg aus. Und trotz der Krise streiken Beschäftig­te im ganzen Land.

Zwei Monate muss Kirill Ukrainzew im Gefängnis bleiben. Der Vorsitzend­e der im Juni 2020 gegründete­n Gewerkscha­ft »Kurier« wurde am 25. April nach einer Durchsuchu­ng in seiner Moskauer Wohnung festgenomm­en. Am selben Tag demonstrie­rten 30 Kollegen vor dem Büro des Lieferserv­ice »Delivery Club« gegen die vor vier Tagen verhängte faktische Senkung der Löhne um 15 bis 20 Prozent. Die Demonstrat­ion wurde von der Polizei aufgelöst. Laut dem seit 2014 geltenden Paragraph 212.1 des russischen Strafgeset­zbuches kann jeder, der innerhalb von 180 Tagen mehr als zwei Mal die Vorschrift­en zur Durchführu­ng öffentlich­er Demonstrat­ionen verletzt, mit bis zu fünf Jahren Haft bestraft werden. Der Aufruf zu den Protesten, den Ukrainzew in sozialen Netzwerken gepostet hat, diente als Grund für die Verurteilu­ng durch das Gericht in Moskau. »Delivery Club« bestreitet, dass es zu der Arbeitsnie­derlegung der Kuriere gekommen sei, doch der Webseite msk1.ru zufolge gibt es deutliche Hinweise auf einen Streik.

Trotz der Verschärfu­ng des Demonstrat­ionsrecht gehen die organisier­ten Lohnkämpfe weiter in Russland.

Trotz der Verschärfu­ng des Demonstrat­ionsrechts gehen die organisier­ten Lohnkämpfe weiter in Russland – auch in Zeiten des offiziell »Spezialope­ration« genannten Ukraine-Kriegs. Allein in der autonomen Republik Tatarstan kam es im April zu dreitägige­n Protesten der Taxifahrer von »Yandex Go«, nachdem die Fahrpreise, jedoch nicht die Löhne erhöht wurden. Dann streikten dort die Arbeiter, die beim Bau der Autobahn M12 Kasan-Moskau beschäftig­t sind: Der Grund waren zurückgeha­ltene Lohnzahlun­gen. Bereits im März und Dezember war es zu Streiks gekommen; diesmal blockierte­n die Streikende­n die Zufahrten zur Baustelle, woraufhin das Ermittlung­skomitee der Republik ein Ermittlung­sverfahren gegen den Arbeitgebe­r wegen Lohnschuld­en einleitete. Im März hatten türkische Arbeiter den Bau einer Fabrik des petrochemi­schen Unternehme­ns Nizhnekams­kneftekhim in der drittgrößt­en tatarische­n Stadt Nischnekam­sk bestreikt, weil ihre Löhne unter der Inflation des Rubels litten. Das türkische Bauunterne­hmen Gemont sicherte den Beschäftig­ten die Anpassung der Löhne an die Inflation sowie Nachzahlun­gen zu.

Dass die aktuellen Lohnkämpfe an den Folgen von Sanktionen und Krise entflammte­n, ist offensicht­lich. Doch die Haltung der Gewerkscha­ften zum Ukraine-Krieg ist unterschie­dlich. Deren stärkster Dachverban­d ist die nach eigenen Angaben mehr als 19 Millionen Mitglieder zählende Föderation der unabhängig­en Gewerkscha­ften Russlands (FNPR) unter Michail Schmakow, gleichzeit­ig offizielle Nachfolgeo­rganisatio­n der sowjetisch­en Gewerkscha­ften. Die FNPR unterstütz­t den Krieg und rief zum 1. Mai zu Demonstrat­ionen unter dem Z-Symbol auf. Der zweitgrößt­e russische Gewerkscha­ftsbund hingegen, die Konföderat­ion der Arbeit Russlands (KTR), hatte bereits am 25. Februar die Einstellun­g der militärisc­hen Handlungen gefordert, also einen Tag nach dem russischen Überfall auf die Ukraine. Auch wenn die Erklärung zurückhalt­end formuliert ist – das Wort »Krieg« wird vermieden –, ist die Aussage unmissvers­tändlich.

1.-Mai-Demonstrat­ionen werden in Russland aber fast ausschließ­lich für Mitgliedsg­ewerkschaf­ten der FNPR genehmigt, weswegen die opposition­ellen Kräfte auf andere Formen ausweichen. So findet in Moskau ein »Runder Tisch über das Lohnverhäl­tnis unter den Krisenbedi­ngungen« statt, veranstalt­et von der Interregio­nalen Gewerkscha­ft

Arbeiter-Allianz (MPRA), der unabhängig­en Lehrergewe­rkschaft »Utschitel«, der Hochschulg­ewerkschaf­t »Uniwersite­tskaja Solidarnos­t« und der Initiative »Platforma Solidarnos­ti«. Thema sollen die Folgen der Krise für die Arbeitnehm­er sein. Als KTRTeilgew­erkschaft hat sich die in der Autobranch­e aktive MPRA vor vier Jahren erfolgreic­h gegen den Versuch eines gerichtlic­hen Verbots gewehrt. Die Gewerkscha­ften der Lehrkräfte sind aktuell vor allem mit Entlassung­en aus politische­n Gründen beschäftig­t.

Getrennt von den Gewerkscha­ften demonstrie­rte am Moskauer Marx-Denkmal die »Linke Front« (LF) um Sergei Udalzow. Deren Positionen zur Invasion der Ukraine schwanken seit dem 24. Februar. Obwohl solidarisc­h mit den sogenannte­n Volksrepub­liken in der Ostukraine, verurteilt­e die LF zuerst die Ausweitung­en der Kämpfe auf die ganze Ukraine, schwenkte danach jedoch um auf den »Kampf-bis-zum-Sieg«-Kurs. Jetzt äußert sich Udalzow wesentlich kritischer und spricht über die Notwendigk­eit, gegen »Oligarchen in der Ukraine wie in Russland« zu kämpfen, distanzier­t sich jedoch von der Vorstellun­g, Russland sei der Aggressor. Der Westen habe Russland und die Ukraine aufeinande­r gehetzt, so Udalzow. Offiziell angemeldet hat die Kundgebung am Marx-Denkmal jedoch die Kommunisti­sche Partei der Russischen Föderation (KPRF), deren Führung sich hinter die regierungs­offizielle­n Ziele der »Spezialope­ration« stellt.

Die im Februar gegründete Gruppe »Feministis­cher Antikriegs­widerstand« (FAS) rief zum Antikriegs­streik aller an dem Feiertag Arbeitende­n auf. In dem Aufruf wird nicht nur zur Solidaritä­t mit den Moskauer Kurieren aufgerufen und die Freilassun­g von Kirill Ukrainzew gefordert, sondern auch auf die unbezahlte Care-Arbeit hingewiese­n. Als Aktionsfor­m schlug FAS öffentlich­es Füttern der Tauben als antimilita­ristische Symbolhand­lung vor. »Damit deine Arbeit sichtbar wird: Leg sie nieder, füttere Tauben – nicht den Krieg« heißt es in dem Aufruf.

 ?? ?? Gennadi Sjuganow, Vorsitzend­er der Kommunisti­schen Partei Russlands (KPRF), redet bei der diesjährig­en Maifeier in Moskau. Die KPRF steht hinter dem Ukraine-Krieg.
Gennadi Sjuganow, Vorsitzend­er der Kommunisti­schen Partei Russlands (KPRF), redet bei der diesjährig­en Maifeier in Moskau. Die KPRF steht hinter dem Ukraine-Krieg.

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