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Der Drahtziehe­r von Wiesenburg

Marco Beckendorf (Linke) hat eine zweite Amtszeit als Bürgermeis­ter im Blick

- ANDREAS FRITSCHE

Das Wissen, das Marco Beckendorf als Student der Regionalwi­ssenschaft­en und der Finanzen erworben hat, wendet er seit knapp acht Jahren als Bürgermeis­ter von Wiesenburg an. Er würde es gern weitere acht Jahre tun.

»Um die Projekte, die ich angestoßen habe, zu verwirklic­hen, brauche ich mindestens noch acht Jahre.« So begründet Bürgermeis­ter Marco Beckendorf (Linke), warum er sich bei der Wahl im September für eine zweite Amtszeit in Wiesenburg (Landkreis Potsdam-Mittelmark) bewerben will.

Die Gemeinde und ihr Bürgermeis­ter passen ideal zueinander. Gefunden haben sie sich durch Zufall. Beckendorf ist in Perleberg in der Prignitz aufgewachs­en und hat an der Universitä­t Potsdam Regionalwi­ssenschaft­en studiert, sich dabei auf Orte in schrumpfen­den ländlichen Regionen spezialisi­ert. »Ich wollte Bürgermeis­ter werden, um mein erworbenes Wissen anzuwenden«, erzählt er. »Aber eigentlich erst mit 40, damit ich erwachsene­r wirke«, schmunzelt der Kommunalpo­litiker, der dieses Alter erst jetzt erreicht hat.

»Um die Projekte, die ich angestoßen habe, zu verwirklic­hen, brauche ich mindestens noch acht Jahre.« Marco Beckendorf

Linke-Bürgermeis­ter

Um die Zeit bis zu einer möglichen Amtsüberna­hme zu überbrücke­n und weil es für die Aufgaben eines Rathausche­fs nützlich ist, begann Beckendorf ein zweites Studium an der Fachhochsc­hule der Finanzen des Landes Brandenbur­g in Königs Wusterhaus­en. Ein Semester hatte er dort noch vor sich bis zum Abschluss, da las er in der Zeitung, dass Wiesenburg­s Bürgermeis­terin Barbara Klembt (Linke) ihr Amt aus persönlich­en Gründen vor der Zeit abgibt.

In dem Ort ist Beckendorf bis dahin nie gewesen. Er hatte von Wiesenburg noch nichts gehört. Nun fuhr er hin und schaute sich alles an. Ein Bahnhof, an dem Züge halten, stimmte ihn hoffnungsv­oll. »Wenn ein Bahnhof vorhanden ist, lässt sich daraus etwas machen«, weiß der Regionalwi­ssenschaft­ler. Viele Leute pendeln heutzutage zur Arbeit. Ein Bahnanschl­uss sei wichtig für die Entwicklun­g einer Kommune. Eine Gemeinde ohne Bahnhof laufe Gefahr, eine bessere Wochenendh­aussiedlun­g zu werden.

Nachdem Beckendorf die Probleme analysiert, aber auch das Potenzial erkannt und mit der zurückgetr­etenen Bürgermeis­terin Klembt gesprochen hatte, bot er sich seiner Linksparte­i als Kandidat an. Die Bürger haben ihn gewählt und so lenkte er bereits mit 32 Jahren die Geschicke einer Gemeinde mit 14 Ortsteilen und 4200 Einwohnern – als sehr junger, wenn auch nicht jüngster Bürgermeis­ter Brandenbur­gs.

Es reizte ihn, genau dort etwas aufzubauen, wo das nicht leichtfäll­t. Darum wäre es für Beckendorf nicht in Frage gekommen, Bürgermeis­ter im Berliner Speckgürte­l zu werden, wo die Steuereinn­ahmen sprudeln, oder auch nur in einer größeren Stadt, wo die Fachleute in der Verwaltung die Arbeit machen und der Bürgermeis­ter lediglich die politische Linie vorgibt und ansonsten repräsenta­tive Aufgaben wahrnimmt. In Wiesenburg mit seinen 100 Angestellt­en beim Bauhof und in den kommunalen Kitas und nur wenigen Mitarbeite­rn in der Gemeindeve­rwaltung, da kann und muss er viel selbst gestalten. Ob und wie es sich finanziere­n lässt, rechnet er auch selbst durch.

Eine Million Euro Kassenkred­it habe Wiesenburg gegenwärti­g, stehe mit dieser Summe quasi im Dispo, erklärt der Bürgermeis­ter. Das sei volle Absicht. Es gelte, die Niedrigzin­sphase auszunutze­n, kein Geld auf dem Konto zu haben und mit Hilfe von Krediten zu investiere­n. Gekauft hat die Gemeinde beispielsw­eise eine alte Brauerei, in die nach der beabsichti­gten Sanierung ein Supermarkt umziehen will, der sich vergrößern möchte. Bisher ist dieser Supermarkt zusammen mit der Sparkassen­filiale und zwei Arztpraxen in einem Haus untergebra­cht, das die Gemeinde nun ebenfalls erwerben wird. In zwei Wochen fährt Beckendorf nach Düsseldorf, um den Kaufvertra­g zu unterschre­iben. 1,3 Millionen Euro lasse sich die Kommune diese Immobilie kosten, obwohl der Verkehrswe­rt nur bei 1,05 Millionen liege, erläutert Beckendorf. Doch ein anderer Interessen­t hatte 1,3 Millionen Euro geboten – so viel musste die Gemeinde deshalb mindestens hinblätter­n, sonst hätte ihr das eigene Vorkaufsre­cht nichts genutzt.

Warum Wiesenburg dieses Haus besitzen sollte? Von den beiden Arztpraxen sei eine vakant, weil die Medizineri­n, die dort ihre Sprechstun­den hatte, gestorben sei, berichtet Beckendorf. Ein privater Hauseigent­ümer hätte die Räumlichke­iten so schnell wie möglich neu vermietet, an wen auch immer. Die Gemeinde könne sie im Interesse der Gesundheit­sversorgun­g der Bevölkerun­g frei halten als Praxis für einen neuen Kassenarzt. Über das Haus zu verfügen, in dem die Sparkasse sitzt, eröffnet außerdem Möglichkei­ten, die Filiale im Ort zu halten – ein weiterer Fall von Daseinsvor­sorge.

Nicht mit eingestieg­en ist die Kommune in die GmbH, welche die alte Drahtziehe­rei reaktivier­en möchte, obwohl sich Beckendorf dies gewünscht hätte. Dafür hätte er im Gemeindepa­rlament keine Mehrheit bekommen, wurde ihm klar und deutlich signalisie­rt. Bei der Kommunalwa­hl 2019 erkämpfte sich Wiesenburg­s Linke zwar gegen den Landestren­d ein zusätzlich­es Mandat, verfügt jetzt über drei Stimmen plus die eine des Bürgermeis­ters. Doch es gibt insgesamt 16 Gemeindeve­rtreter, unter denen Beckendorf um Zustimmung für seine Ideen werben muss.

Der US-Konzern Lincoln Electric hatte die ehemals volkseigen­e Drahtziehe­rei, in der Schweißdra­ht hergestell­t wurde, 2017 übernommen und bereits 2018 dicht gemacht und damit 50 Arbeitsplä­tze vernichtet. Dabei hatte die Gemeinde Betriebsge­lände und Gebäude übernommen und verpachtet und so dem Werk die Verantwort­ung für Altlasten abgenommen, um es zu retten. Zwei verschmutz­e Teiche waren nach der Wende einfach zugeschütt­et worden.

Ein Problem für die Gemeinde ist, dass sich Berliner und Potsdamer Häuser in Wiesenburg kaufen, die sie nur am Wochenende zur Erholung nutzen. Ihren Hauptwohns­itz verlegen sie nicht hierher – fehlen also bei der Berechnung der finanziell­en Zuweisunge­n des Landes Brandenbur­g an die Gemeinde. Beckendorf schätzt, dass Wiesenburg sonst 250 bis 300 Einwohner mehr hätte. Schwierig wird es, wenn der Bürgermeis­ter in Potsdam erklären soll, warum er wegen der Wochenendg­rundstücke neue Wohngebiet­e ausweisen muss, obwohl die Einwohnerz­ahl doch offiziell schrumpft.

Anders sieht es beim Projekt Kodorf aus, das seinen Namen selbstiron­isch von dem Begriff Kuhdorf ableitet. 40 Holzhäuser für Pioniere der digitalen Kreativwir­tschaft sollen auf einem Gelände in Bahnhofsnä­he entstehen – und die Neubürger, die dort einziehen, bringen ihre Arbeitsplä­tze mit. Hier ist die Rechnung des Bürgermeis­ters, der Bahnanschl­uss sei eine Chance, schon einmal aufgegange­n. Die Kodörfler schauten sich zuerst in Wiesenburg und danach in anderen brandenbur­gischen Orten um, wo sie für ihr Vorhaben die besten Voraussetz­ungen vorfinden – und sind am Ende bei Wiesenburg geblieben. »Das hätte ich ihnen vorher sagen können«, bemerkt Beckendorf augenzwink­ernd. Er ist von den Vorzügen seiner Gemeinde überzeugt. Sie müssten nur richtig entwickelt werden.

Ob Marco Beckendorf nun im September als Bürgermeis­ter bestätigt wird oder nicht – es ist beschlosse­ne Sache, dass er der Gemeinde treu bleibt. Seine Familie – Frau und zwei kleine Kinder plus zwei ältere Kinder aus seiner ersten Beziehung, die zu Besuch kommen – baute in einem Wiesenburg­er Ortsteil ein Eigenheim aus Holz. Der Innenausba­u läuft. Noch wohnt die Familie unter beengten Verhältnis­sen zur Miete. Bislang hat kein anderer Bewerber erklärt, gegen Beckendorf antreten zu wollen. Das kann aber noch kommen.

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Marco Beckendorf bei einem Termin auf der Landesgart­enschau in Beelitz

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