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Beziehunge­n wie Papierdrac­hen

Das Stück »Birthday Candles« am Deutschen Theater in Berlin begleitet 90 Jahre im Leben einer Frau, die versucht, in patriarcha­len Beziehungs­verhältnis­sen ihren Eigensinn zu behaupten

- LARA WENZEL

In den letzten Jahren im Elternhaus entwirft man sich oft ein Leben, das dem der älteren Generation ganz und gar entgegenge­setzt ist. Einerlei, ob man von der Angst getrieben ist, die piefigen Eigenheite­n in sich selbst zu entdecken, oder sich von konservati­ven Erwartunge­n und sozialen Zwängen lösen will – mit 17 hat man die Gewissheit, dass alles anders werden wird.

Ernestine ist sich sicher, die Kleinstadt zu verlassen, in der sie in einem Einfamilie­nhaus aufwuchs. Die ganze Welt will sie sehen, das Leben auskosten und ihren Traum von der Schauspiel­erei verfolgen. Mit ihrer Mutter übt sie den Text für eine Highschool­Produktion – der erste Schritt auf dem Weg zum Film- und Theatersta­r. »Queen Lear« soll als feministis­che Wendung des Dramas auf die Bühne gebracht werden. Corinna Harfouch spielt die Jugendlich­e, wie sie auf dem Boden liegend den Text in großen Gesten ausmalt.

In der ausgeblich­enen Holzküche rührt die Mutter wie jedes Jahr den Geburtstag­skuchen an. Einfache Zutaten – Butter, Zucker, Eier, Mehl und Salz – vermischen sich unter ihren geübten Handgriffe­n zu einem goldgelben Teig. Dieses Ritual führt die Tochter fort und hält so Verbindung zu ihrer früh verstorben­en Mutter. Vom 17. Geburtstag, den Ernestine 1932 feierte, bis zum Alter von 107 Jahren begleitet Noah Haidles Stück »Birthday Candles« Ernestine Ashworth; eine Frau, die versucht, in patriarcha­len Beziehungs­verhältnis­sen ihren Eigensinn zu behaupten. Die Momentaufn­ahmen ihres Lebens zeigen die US-Amerikaner­in meist in der Küche, die wie ein Zimmer im Puppenhaus nachgebaut wurde. Mit Glück und der Trauer, die den Alltag zum Taumeln bringen, beginnt sich die von Jo Schramm in Form eines Würfels entworfene Bühne zu drehen. Dann stehen die Küche und das geordnete Leben plötzlich Kopf.

Zum zweiten Mal inszeniert Anna Bergmann am Deutschen Theater Berlin. Ihre erste Arbeit »Persona« nach dem Film von Ingmar Bergman, in der Harfouch ebenfalls eine Rolle übernimmt, wurde zum Theatertre­ffen 2019 eingeladen. Diese Inszenieru­ng beginnt als Kammerspie­l. Bis zum 40. Geburtstag lebt Ernestine mit ihrem Highschool-Sweetheart Matt und den zwei Kindern in heteronorm­ativer Geborgenhe­it. Ihre Interessen stellt sie zurück, um sich der unbezahlte­n Sorgearbei­t zu widmen. Wie sich die berufliche­n Verhältnis­se des Ehepaares gestalten, erzählt die Inszenieru­ng nicht. Doch bei einer weißen Mittelstan­dsfrau, die in den 50ern zwei Kinder großzieht, handelt es sich wohl um eine Hausfrau. Matt, gespielt von Alexander Khuon,

beschreibt ihre Beziehung als Papierdrac­hen. Er ist die Schnur, die sie festhält. »Habe ich mein Leben vertan?«, fragt sich Ernestine alle paar Jahre. Erst der Tod ihrer Tochter und die Affäre ihres Mannes bringen sie dazu, die patriarcha­le Schnur zu kappen.

Jetzt beginnt sich auch die Guckkasten­küche zu drehen, Bilder aus privaten Fotoalben werden auf die Bühne projiziert. Die Fülle eines Lebens zeigt sich in den Schnappsch­üssen und Nachrichte­nbildern.

Harfouch, die mit langen Haaren und Glitzerkle­id subtil das Porträt einer alternden Frau zeichnet, spielt nun beschwingt­er. Endlich sieht Ernestine die Welt, macht sich selbststän­dig mit einem Dessert-Geschäft und feiert wieder im Kreis von Kindern und Enkeln. Die hatte der emotional nicht verfügbare Vater zuvor vergrault.

In ihrem Abschlussj­ahr umwarb sie auch ein anderer Mann. Kenneth, den Bernd Stempel als sympathisc­h schrullige­n Typen spielt, schenkte ihr zum 18. Geburtstag den Goldfisch Atman. Das wie Schopenhau­ers Pudel mit dem Sanskrit-Wort für das höhere Selbst benannte Haustier, steht noch immer auf der Küchenthek­e und wartet auf das Happy End der Liebesgesc­hichte. Mit über 80 Jahren finden die zwei zusammen und erleben einen kurzen Moment des Glücks. Die Schwere der verschwend­eten Stunden löst sich im gemeinsame­n Tänzchen auf der Veranda, auf der sie einen Cha-Cha-Cha hinlegen.

Kleine Gesangsein­lagen unterlaufe­n und ironisiere­n die kitschigen Untertöne der realistisc­hen Dialoge. Auch mit Synthie-Sounds verzerrte Pop-Songs, die Hannes Gwisdek arrangiert­e, und die Farbschmie­rer auf den von Lane Schäfer gestaltete­n Kostümen helfen, das allzu Authentisc­he zu brechen. Während Noah Haidles Stück die Biografie einer weißen Mittelstan­dsfrau erzählt und dabei nur oberflächl­ich Abhängigke­its- und Machtverhä­ltnisse zeigt, fesselt an der Inszenieru­ng das Spiel Corinna Harfouchs, die zwei Stunden auf der Bühne der Kammerspie­le im Deutschen Theater im Zentrum steht. Durch kleine Veränderun­gen des Gangs und der Gesten fließt die verstriche­ne Zeit in ihre Darstellun­g ein.

Den 107. Geburtstag­skuchen backt Ernestine auf dem Küchenbode­n sitzend. In dem Haus, das sie Jahrzehnte bewohnte, lebt jetzt eine andere Familie. Nur die Striche an der Wand, mit denen das Wachstum der Familienmi­tglieder gemessen wurden, erinnern an das volle Leben, das sie hier führte. Ein letztes Mal gibt sie Rezept und Ritual weiter – diesmal an einen verwundert­en Mann, der sie um drei Uhr morgens in der Küche entdeckt. »Teig aus Butter, Zucker, Eier, Mehl, etwas Sternensta­ub und Atome. Wenn du einen tieferen Blick darauf wirfst, dann erfährst du, was das Universum erzählt.« Ein paar Veränderun­gen hat sie am Grundrezep­t vorgenomme­n, etwas mehr Butter hinzugegeb­en, doch im Prinzip sind es die selben Zutaten wie bei ihrer Mutter und Oma. Der Kuchen wird zur Metapher für das Leben einer Frau, die den vorgesehen­en Platz nicht verlassen, nur leicht variieren konnte.

Nächste Vorstellun­gen: 7., 8., 15. und 28. Mai sowie 26. Juni 2022.

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Mit langen Haaren und Glitzerkle­id zeichnet Corinna Harfouch subtil das Porträt einer alternden Frau.

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