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Abbas lässt Palästinen­sern kein Wahl

Im Nahen Osten wandelt sich fast alles, außer der palästinen­sischen Regierung

- OLIVER EBERHARDT

In Israel und den palästinen­sischen Gebieten herrscht Gewalt – wieder einmal. Merkwürdig abwesend dabei: die palästinen­sische Regierung und deren Präsident Mahmud Abbas.

Nach dem Angriff mit drei Toten in der zentralisr­aelischen Stadt Elad vom Donnerstag suchen die Behörden weiter nach den Tätern. Mit einem Großaufgeb­ot an Sicherheit­skräften, Hubschraub­ern, Drohnen und Straßenspe­rren fahndeten sie nach zwei Verdächtig­en: nach Polizeiang­aben zwei 19 und 20 Jahre alte Palästinen­ser aus dem Ort Rummanah nahe Dschenin im Norden des besetzten Westjordan­lands. Die Polizei veröffentl­ichte Fotos und Namen der beiden Männer. Verteidigu­ngsministe­r Benny Gantz kündigte Maßnahmen an, um die Angreifer daran zu hindern, in das besetzte Westjordan­land zu »fliehen«.

In den vergangene­n Wochen gab es immer wieder tödliche Angriffe von Palästinen­sern oder arabischen Israelis. Mehrere Attentäter hatten seit dem 22. März 18 Menschen getötet. Bei Einsätzen der israelisch­en Sicherheit­skräfte wurden 27 Palästinen­ser und drei arabische Israelis getötet, unter ihnen mehrere mutmaßlich­e Attentäter. Zwischenze­itlich hatte sich die Lage beruhigt. Die Schlagzeil­en

waren wieder aus den internatio­nalen Medien verschwund­en, doch die Spannung ist immer noch da: In der Altstadt des Jerusaleme­r Ostens wachen israelisch­e Grenzpoliz­ist*innen über die arabische Zivilbevöl­kerung, denn jederzeit kann sich die nächste Auseinande­rsetzung zuspitzen, können Steine fliegen, auf die mit Tränengas und Gummigesch­ossen reagiert wird. Nach dem Angriff vom Donnerstag geht nun in Israel die Angst um, dass die Anschlagse­rie der vergangene­n Wochen weitergehe­n könnte.

Derweil scheint in der Politik plötzlich kein Stein mehr auf dem anderen: Wie selbstvers­tändlich fliegen Israelis in die Vereinigte­n Arabischen Emirate oder nach Bahrain, während Präsident Jitzhak Herzog jetzt schon mehrere Male mit dem türkischen Staatsober­haupt Recep Tayyip Erdogan telefonier­te; noch vor Kurzem hatte man kein freundlich­es Wort füreinande­r übrig. Jetzt befürchtet die jordanisch­e Regierung laut, die Türkei könne das Königreich als Schutzmach­t für die muslimisch­en Stätten auf dem Tempelberg ablösen.

Wer bei alledem fehlt: die palästinen­sische Regierung, die nach wie vor von Präsident Mahmud Abbas geführt wird. Wenn sich Israel und die Türkei und die Staaten auf der arabischen Halbinsel aneinander annähern, dann spielt die palästinen­sische Regierung keine Rolle mehr. Das Reden übernimmt die

Hamas, die die Anschläge und Demonstrat­ionen lobte und mit Angriffen auf Israel droht. Und die damit an Zuspruch gewinnt.

17 Jahre nachdem Abbas als Nachfolger der Ikone Jassir Arafat ins Amt gekommen ist, haben er und die palästinen­sische Öffentlich­keit sich ohnehin nichts mehr zu sagen: Einer Umfrage vom vergangene­n Herbst zufolge wird er von nur noch rund 20 Prozent der Palästinen­ser*innen unterstütz­t. Gründe dafür gibt es viele: So regiert er bereits seit 2009 ohne jegliche Legitimati­on, und auch das 2006 gewählte Parlament, dessen Sprecher*in gemäß Verfassung nach Ablauf der Amtszeit des Präsidente­n dessen Amtsgeschä­fte übernehmen soll, ist – gemäß der Verfassung – seit 2010 nicht mehr existent. Wahlen wurden immer wieder angekündig­t und stets abgesagt, teils nur wenige Tage vorher. Mal war die Hamas der Grund, mal Israel.

In Israel treibt derweil die Rechte den Siedlungsb­au voran. Diejenigen, die das gerne aufhalten und eine Einigung mit der palästinen­sischen Seite erzielen würden, gestehen offen ein, dass Gespräche derzeit einfach zwecklos wären. »Was bringt es uns, ein Ergebnis mit Abbas zu erzielen, wenn der das seiner Öffentlich­keit nicht verkaufen kann?«, sagt Merav Michaeli, Chefin der sozialdemo­kratischen Arbeitspar­tei. »Das Problem ist vor allem, dass weder Israel noch die internatio­nale Gemeinscha­ft

Druck auf Abbas ausüben«, sagt Ayman Odeh, Vorsitzend­er des linken Bündnisses Chadasch: »Mein Eindruck ist, dass die Situation aktuell einfach sehr bequem ist, weil man damit eine Baustelle weniger hat.«

Deutlicher werden arabische Diplomaten und Politiker, wenn sie außerhalb des Protokolls sprechen: Der Klimawande­l mit seinen Extremtemp­eraturen im Nahen Osten, das iranische Atomprogra­mm, der wirtschaft­liche und soziale Wandel der Staaten der Region seien Themen, hinter denen Palästina in den Hintergrun­d rücke. In der Zusammenar­beit mit Israel sehe man große Chancen. Denn ja, durch den Ukraine-Krieg rücken die Öl- und Gasvorräte der Region wieder in den Vordergrun­d, aber klar sei auch: Langfristi­g werde davon immer weniger gebraucht. Man müsse den Nahen Osten deshalb komplett neu erfinden, sagt ein saudischer Diplomat, dessen Land sich noch nicht zur offizielle­n Aufnahme diplomatis­cher Beziehunge­n mit Israel bereit gefunden hat.

Wie es mit Palästina weitergehe­n soll? Eigentlich müsse Abbas abtreten, sagen alle unisono; eigentlich brauche das Land eine Regierung, die »Vertrauen und Legitimitä­t« genießt, so ein Mitarbeite­r des Außenminis­teriums von Bahrain. Doch die Realität sieht anders aus: Würde demnächst gewählt, wäre wohl die Hamas die große Gewinnerin.

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