Abbas lässt Palästinensern kein Wahl
Im Nahen Osten wandelt sich fast alles, außer der palästinensischen Regierung
In Israel und den palästinensischen Gebieten herrscht Gewalt – wieder einmal. Merkwürdig abwesend dabei: die palästinensische Regierung und deren Präsident Mahmud Abbas.
Nach dem Angriff mit drei Toten in der zentralisraelischen Stadt Elad vom Donnerstag suchen die Behörden weiter nach den Tätern. Mit einem Großaufgebot an Sicherheitskräften, Hubschraubern, Drohnen und Straßensperren fahndeten sie nach zwei Verdächtigen: nach Polizeiangaben zwei 19 und 20 Jahre alte Palästinenser aus dem Ort Rummanah nahe Dschenin im Norden des besetzten Westjordanlands. Die Polizei veröffentlichte Fotos und Namen der beiden Männer. Verteidigungsminister Benny Gantz kündigte Maßnahmen an, um die Angreifer daran zu hindern, in das besetzte Westjordanland zu »fliehen«.
In den vergangenen Wochen gab es immer wieder tödliche Angriffe von Palästinensern oder arabischen Israelis. Mehrere Attentäter hatten seit dem 22. März 18 Menschen getötet. Bei Einsätzen der israelischen Sicherheitskräfte wurden 27 Palästinenser und drei arabische Israelis getötet, unter ihnen mehrere mutmaßliche Attentäter. Zwischenzeitlich hatte sich die Lage beruhigt. Die Schlagzeilen
waren wieder aus den internationalen Medien verschwunden, doch die Spannung ist immer noch da: In der Altstadt des Jerusalemer Ostens wachen israelische Grenzpolizist*innen über die arabische Zivilbevölkerung, denn jederzeit kann sich die nächste Auseinandersetzung zuspitzen, können Steine fliegen, auf die mit Tränengas und Gummigeschossen reagiert wird. Nach dem Angriff vom Donnerstag geht nun in Israel die Angst um, dass die Anschlagserie der vergangenen Wochen weitergehen könnte.
Derweil scheint in der Politik plötzlich kein Stein mehr auf dem anderen: Wie selbstverständlich fliegen Israelis in die Vereinigten Arabischen Emirate oder nach Bahrain, während Präsident Jitzhak Herzog jetzt schon mehrere Male mit dem türkischen Staatsoberhaupt Recep Tayyip Erdogan telefonierte; noch vor Kurzem hatte man kein freundliches Wort füreinander übrig. Jetzt befürchtet die jordanische Regierung laut, die Türkei könne das Königreich als Schutzmacht für die muslimischen Stätten auf dem Tempelberg ablösen.
Wer bei alledem fehlt: die palästinensische Regierung, die nach wie vor von Präsident Mahmud Abbas geführt wird. Wenn sich Israel und die Türkei und die Staaten auf der arabischen Halbinsel aneinander annähern, dann spielt die palästinensische Regierung keine Rolle mehr. Das Reden übernimmt die
Hamas, die die Anschläge und Demonstrationen lobte und mit Angriffen auf Israel droht. Und die damit an Zuspruch gewinnt.
17 Jahre nachdem Abbas als Nachfolger der Ikone Jassir Arafat ins Amt gekommen ist, haben er und die palästinensische Öffentlichkeit sich ohnehin nichts mehr zu sagen: Einer Umfrage vom vergangenen Herbst zufolge wird er von nur noch rund 20 Prozent der Palästinenser*innen unterstützt. Gründe dafür gibt es viele: So regiert er bereits seit 2009 ohne jegliche Legitimation, und auch das 2006 gewählte Parlament, dessen Sprecher*in gemäß Verfassung nach Ablauf der Amtszeit des Präsidenten dessen Amtsgeschäfte übernehmen soll, ist – gemäß der Verfassung – seit 2010 nicht mehr existent. Wahlen wurden immer wieder angekündigt und stets abgesagt, teils nur wenige Tage vorher. Mal war die Hamas der Grund, mal Israel.
In Israel treibt derweil die Rechte den Siedlungsbau voran. Diejenigen, die das gerne aufhalten und eine Einigung mit der palästinensischen Seite erzielen würden, gestehen offen ein, dass Gespräche derzeit einfach zwecklos wären. »Was bringt es uns, ein Ergebnis mit Abbas zu erzielen, wenn der das seiner Öffentlichkeit nicht verkaufen kann?«, sagt Merav Michaeli, Chefin der sozialdemokratischen Arbeitspartei. »Das Problem ist vor allem, dass weder Israel noch die internationale Gemeinschaft
Druck auf Abbas ausüben«, sagt Ayman Odeh, Vorsitzender des linken Bündnisses Chadasch: »Mein Eindruck ist, dass die Situation aktuell einfach sehr bequem ist, weil man damit eine Baustelle weniger hat.«
Deutlicher werden arabische Diplomaten und Politiker, wenn sie außerhalb des Protokolls sprechen: Der Klimawandel mit seinen Extremtemperaturen im Nahen Osten, das iranische Atomprogramm, der wirtschaftliche und soziale Wandel der Staaten der Region seien Themen, hinter denen Palästina in den Hintergrund rücke. In der Zusammenarbeit mit Israel sehe man große Chancen. Denn ja, durch den Ukraine-Krieg rücken die Öl- und Gasvorräte der Region wieder in den Vordergrund, aber klar sei auch: Langfristig werde davon immer weniger gebraucht. Man müsse den Nahen Osten deshalb komplett neu erfinden, sagt ein saudischer Diplomat, dessen Land sich noch nicht zur offiziellen Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit Israel bereit gefunden hat.
Wie es mit Palästina weitergehen soll? Eigentlich müsse Abbas abtreten, sagen alle unisono; eigentlich brauche das Land eine Regierung, die »Vertrauen und Legitimität« genießt, so ein Mitarbeiter des Außenministeriums von Bahrain. Doch die Realität sieht anders aus: Würde demnächst gewählt, wäre wohl die Hamas die große Gewinnerin.