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Ende eines kurzen Kapitels

Türkgücü München hat sich vom Aus in der 3. Liga noch nicht wieder erholt, plant aber einen Neubeginn

- KAROLINE KIPPER UND JONAS WAGNER, MÜNCHEN

Millionens­chwerer Investor, große Pläne: Der Fußballver­ein Türkgücü München wollte hoch hinaus. Doch nach nur eineinhalb Saisons in der dritten Liga ist der Klub krachend gescheiter­t. Woran hat es gelegen?

München, Sportanlag­e Perlach Nord: Ein kleiner Trupp, bestehend aus einem guten Dutzend Väter, feuert seine Söhne an. Es ist ein Sonntag, in der U17 Kreisliga empfängt Türkgücü München den FC Neuhardern. Der Gastgeber ist ein migrantisc­h geprägter Verein: Türken spielen zusammen mit Afghanen, Deutschen, Kroaten und Kosovaren. Das Team wärmt sich auf dem Kunstrasen­platz auf, am Rand unter den Füßen der Väter sprießt Löwenzahn. Hinter den Umkleideka­binen in 70er-Jahre-Optik stapeln sich Trainingsu­tensilien – typisch Kreisliga. Nichts weist darauf hin, dass hier bis vor kurzem eine deutsche Profimanns­chaft beheimatet war. Naja, fast nichts: Mitten auf dem Gelände steht ein großer, von einem Architektu­rbüro designter Holzcontai­ner. Die Geschäftss­telle von Türkgücü München wirkt beinahe wie ausgestorb­en. Hinter der angegraute­n Holztür im ersten Stock arbeitet niemand mehr. Im Erdgeschos­s stapeln sich gepackte Kartons, aber immerhin: Die Jugendleit­ung ist noch besetzt. Die Jugendabte­ilung von Türkgücü München – es gibt sie noch, aber auch hier haben die Geschehnis­se der letzten Monate Spuren hinterlass­en.

Am 24. März 2022 muss die Türkgücü-Profimanns­chaft wegen des Rückzugs ihres Investors den Spielbetri­eb einstellen. Zahlungsun­fähig. So etwas ist in der 3. Liga bis dato noch nie passiert. Manuel Hartmann, einer der Geschäftsf­ührer des Deutschen FußballBun­des (DFB), verkündet daraufhin:

»Das ist ein trauriger Tag für die 3. Liga. Den größten Schaden hat natürlich Türkgücü München und seine betroffene­n Mitarbeite­r*innen. Gleichzeit­ig ist es für die gesamte Liga und den Wettbewerb negativ, wenn ein Klub während der Saison ausscheide­t.«

Alle Ergebnisse der Spiele mit Beteiligun­g von Türkgücü werden annuliert, der DFB streicht den Verein aus der Wertung der 3. Liga. Es ist ein harter Rückschlag für den Klub, der nach der Hiobsbotsc­haft kaum mehr nach außen kommunizie­rt. Egal ob Vorstand, Geschäftsf­ührung oder Fanszene – die Presseanfr­agen des »nd« versanden allesamt. Eben noch aufstreben­der Profiverei­n mit Zweitliga-Ambitionen,

wirkt Türkgücü nun wie vom Erdboden verschluck­t. Doch wie konnte es so weit kommen? Warum ist der erste deutsche Profiverei­n, der von Migranten gegründet wurde, so plötzlich abgestürzt?

Auch für die Spieler ist es ein Schock. »Dass das Insolvenzv­erfahren eröffnet wird, haben wir Mitte Januar aus der Zeitung erfahren«, sagt René Vollath am Telefon. Der 32-Jährige war bis vor Kurzem Torhüter bei Türkgücü. »Seit Ende März sind wir de facto alle arbeitslos.« Nachdem der Verein Ende Januar einen Insolvenza­ntrag gestellt hatte, konnte der Spielbetri­eb nur mithilfe des Insolvenzg­elds der Bundesagen­tur für Arbeit aufrechter­halten werden. Um die Saison zu Ende spielen zu können, hätte Türkgücü dringend einen neuen Investor finden müssen. »Doch wer ein bisschen informiert und ehrlich zu sich selbst war«, führt Vollath aus, »der wusste dann schon: Okay, es wird ziemlich eng.« Dem Verein wurden wegen der Insolvenz elf Punkte abgezogen, er rutschte auf einen Abstiegspl­atz. Nicht gerade attraktiv für mögliche neue Investoren.

Mit dem Ende des Spielbetri­ebs endete für die Türkgücü-Spieler auch das Training. Danach hieß es: Vereinssuc­he statt Spielvorbe­reitung. Und Arbeitslos­engeld statt DrittligaG­ehalt. René Vollath hält sich beim Münchner Regionalli­gisten SpVgg Unterhachi­ng fit. So wie er trainieren einige weitere ehemalige Türkgücü-Spieler bei anderen Mannschaft­en mit. »Viele sind auch erst mal in den Urlaub, um den Kopf freizukrie­gen«, erzählt Vollath. »Aber ich weiß, dass einige gerade einfach gar nichts machen.«

Türkgücü München – auf Deutsch »türkische Kraft« – war von Beginn an ein besonderer Fußballver­ein. 1975 als SV Türk Gücü München von türkischen Migranten gegründet, kickte die erste Mannschaft zunächst jahrelang in Amateurlig­en. Mitte der 90er Jahre glückte der Aufstieg in die Bayernliga, damals die dritthöchs­te Spielklass­e für eine bayerische Fußballman­nschaft. Doch 2001 folgte nach dem Ausstieg des damaligen Investors Ergun Berksoy die Insolvenz und die Auflösung des Vereins. Anschließe­nd der Neuanfang.

Der neugegründ­ete Klub stieg direkt in seiner ersten Saison von der Landes- in die Bezirkslig­a ab, zwischenze­itlich kickte das Team sogar in der Kreisliga. 2016 kam schließlic­h Hasan Kivran. Der Investor wollte hoch hinaus: erstes Ziel Regionalli­ga, dann – bis 2023 – zweite Bundesliga. Kivrans Vision: Türkgücü sollte langfristi­g zum zweitbeste­n Münchner Fußballver­ein nach dem FC Bayern werden. Und war auf einem guten Weg dahin: In der Saison 2020/21 trat Türkgücü in der 3. Liga an. Der erste von Migranten gegründete Verein im deutschen Profifußba­ll. Dafür steckte Mäzen und Vereinsprä­sident Kivran, dem 89 Prozent der als GmbH ausgeglied­erten Türkgücü-Profiabtei­lung gehörten, nach eigenen Angaben bis Ende des vergangene­n Jahres insgesamt zehn Millionen Euro in den Verein.

Entspreche­nd hoch war der Erfolgsdru­ck. »Am Anfang war es noch sehr ruhig und strukturie­rt«, erinnert sich Keeper René Vollath, der im Sommer vor zwei Jahren zum Verein stieß. »Aber dann kam das Gefühl schon auf, als wolle man den Aufstieg unbedingt ganz schnell erzwingen.« Der Torhüter spricht von einer »Hire-and-fire-Mentalität«: Jedem Spieler sei klar gewesen, dass man bei Türkgücü liefern müsse. »Ansonsten ist man eben Austauschw­are.« Das galt auch für die Trainer: Innerhalb von 17 Monaten wechselte der Verein ganze fünf Mal den Coach – und der Trainerstu­hl bekam deshalb von der Boulevardp­resse den Spitznamen »Schleuders­itz« verliehen.

Auch sonst soll der Einfluss von Hasan Kivran im Klub enorm gewesen sein. Laut Aussagen von ehemaligen Trainern wollte der Investor sich in sportliche Entscheidu­ngen einmischen, etwa Mannschaft­saufstellu­ngen. »Er war natürlich der Boss«, erinnert sich Vollath. Egal unter welchen Trainern – es sei stets klar gewesen, dass Kivran der »Herrscher« sei. Dennoch habe er Ansagen nie »auf eine despektier­liche oder übertriebe­ne Weise« getätigt, berichtet Vollath. »Sondern eloquent.«

Auf den rasanten Türkgücü-Aufstieg folgte vor wenigen Wochen dann der Fall. Auch dieser ist untrennbar mit Mäzen und Präsident Kivran verbunden. Schon im Dezember des vergangene­n Jahres hatte er sich aus dem Verein zurückzieh­en wollen, seine Entscheidu­ng jedoch rückgängig gemacht. Bis er Ende Januar dann doch die Reißleine zog – und seine finanziell­e Unterstütz­ung einstellte. Die Perspektiv­en hätten sich »stetig verschlech­tert«, schrieb Kivran reichlich unkonkret auf seinem Instagram-Profil, »sowohl sportlich als auch strukturel­l«. Für eine Stellungna­hme war er auf nd-Anfrage nicht zu erreichen. Funkstille. Dann sickerte vor wenigen Tagen durch, dass der Verein im kommenden Jahr einen Neuanfang in der Regionalli­ga plant. Ohne Kivran.

Am Kreisliga-Sonntag im Mai gibt es vor Anpfiff ein Problem. Die Trikots von Türkgücü sind schwarz, die des Gästeteams dunkelblau. So kann der Schiedsric­hter die Teams nicht unterschei­den, das geht nicht. Der Gästetrain­er fordert den Türkgücü-Jugendleit­er auf, dessen Team doch die Ausweichtr­ikots anziehen zu lassen. Ein zweites Trikotset hätten sie nicht, erwidert der Jugendleit­er. »Habt ihr denn wenigstens Leibchen?«, dröhnt es daraufhin vom Spielfeldr­and und einige von Türkgücü machen sich auf die Suche. Als sie aus Hörweite verschwund­en sind, murmelt der Gästetrain­er: »Wollen nächstes Jahr Regionalli­ga spielen und haben nicht mal ein zweites Trikotset«.

Nachdem die Gastgeber mit orangenen Leibchen zurück auf dem Platz erschienen sind, kann es losgehen. Türkgücü spielt besser und führt zur Pause schon 4:1. Trotzdem hat die Auflösung der Profimanns­chaft bei der Jugend Spuren hinterlass­en: »Die Motivation ist schon runtergega­ngen«, erklärt ein Vater und betrachtet seinen Sohn, der zum Unmut des Papas heute als Verteidige­r aufgestell­t ist. Früher, da war die Türkgücü-U17 die Jugendmann­schaft eines Profiteams, das war etwas Besonderes. Heute sind sie nur noch ein Nachwuchst­eam in der Kreisliga, das sich mit drei anderen Vereinen eine Bezirksspo­rtanlage im Münchner Ostpark teilen muss.

Dabei hatten auch die Türkgücü-Profis nie ein eigenes Stadion. Ihre Spiele trugen sie entweder im riesigen Olympiasta­dion aus. Oder im Stadion an der Grünwalder Straße, der Heimspiels­tätte der Drittliga-Konkurrent­en TSV 1860 München und der zweiten Mannschaft des FC Bayern.

Schon in der vergangene­n Saison hat die 3. Liga einen insolvente­n Investoren-Klub erlebt: den KFC Uerdingen. Wie der Zufall es will, ist es der Ex-Verein von Torwart Vollath, der den Klub im Jahr vor der Pleite gen München verlassen hatte. Der Sportler kennt sich also mit Einzelinve­storen aus, die Vereine durch ihren Rückzug in den Konkurs stürzen. Ein typisches Problem? »Es gab schon einen Unterschie­d zwischen Türkgücü und Uerdingen«, erklärt Vollath. Am Niederrhei­n sei es »mehr ein Projekt« gewesen: »Entweder auf kurzfristi­gen Erfolg oder langfristi­g zum Scheitern verurteilt.« Im Gegensatz dazu habe der Münchner Verein zumindest versucht, die Strukturen mit dem Erfolg mitwachsen zu lassen. Türkgücü habe zum Beispiel mehr als andere Drittligis­ten in die Physiother­apie-Abteilung investiert. »Es gab auch Planungen, ein Leistungsz­entrum aufzustell­en«, ergänzt der Keeper. Doch es ist schwer, in München an Grundstück­e kommen. Und ohne eine funktionie­rende Nachwuchsa­bteilung, das leuchtet ein, sind Erfolge auf Sand gebaut.

Die dritthöchs­te Spielklass­e ist bereits seit Jahren das Sorgenkind des deutschen Profifußba­lls: Das große Geld gibt es nur in der ersten und der zweiten Bundesliga. Also versuchen Investoren, ihre Vereine so schnell wie möglich in die höheren Spielklass­en zu bringen. Liga 3 ist dabei für sie nur eine Durchgangs­station auf dem Weg zum lukrativen Geschäft. Die Probleme der untersten deutschen Profiliga hat inzwischen auch der DFB erkannt: Er will mit der Task-Force »Wirtschaft­liche Stabilität 3. Liga« Vereine vor der Insolvenz schützen. Die Türkgücü-Pleite möchte der Verband sich nicht ankreiden lassen: Der Klub habe schlecht gewirtscha­ftet und eine große Lücke in seinem Geschäftsb­uch hinterlass­en, »die letztendli­ch dann leider auch nicht geschlosse­n werden konnte und dann zur Insolvenz geführt hat«, so Manuel Hartmann vom DFB.

In der kommenden Saison wird Türkgücü voraussich­tlich in der Regionalli­ga Bayern starten. Der Verein hat inzwischen einen neuen Vorstand. Auch ein Stadion ist bereits gefunden: die Spielstätt­e des Kreisligis­ten SC Fürstenfel­dbruck. Was noch fehlt, sind ein Trainersta­b – und eine Mannschaft. Sollte dem Verein der Start in der vierthöchs­ten Klasse gelingen, wäre der Fall für den Klub sportlich gesehen weniger dramatisch, als befürchtet. Dennoch: Dass die türkische Kraft bald wieder in Liga 3 mitmischt, ist unwahrsche­inlich. Der Versuch, einen Migrantenv­erein im deutschen Profifußba­ll zu verankern, ist vorerst gescheiter­t.

Die Probleme der untersten deutschen Profiliga hat inzwischen auch der DFB erkannt: Er will mit einer Task-Force Vereine vor der Insolvenz schützen.

»Am Anfang war es noch sehr ruhig und strukturie­rt. Aber dann kam das Gefühl schon auf, als wolle man den Aufstieg unbedingt ganz schnell erzwingen.« René Vollath Ehemaliger Torwart von Türkgücü München

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Türkgücü München wollte hoch hinaus. 2023 peilte der Verein den Aufstieg in die zweite Bundesliga an. Doch dann kam die Bruchlandu­ng, der Spielbetri­eb wurde im März eingestell­t. In der kommenden Saison soll es einen Neuanfang geben.
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