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Wirtschaft­skrise dominierte Wahlkampf

Libanesen sind unzufriede­n mit der politische­n Elite des Landes, viele wollen das Land verlassen

- KARIN LEUKEFELD, BEIRUT Charbel M.

Am Sonntag finden im Libanon Parlaments­wahlen statt. Von den rund 6,5 Millionen Libanesen sind alle ab dem Alter von 21 Jahren wahlberech­tigt. Die Jugend fühlt sich und ihre Belange dabei vergessen.

Der Wahlkampf im Libanon 2022 wird vor allem mit Debatten im Fernsehen und auf sozialen Medienkanä­len und mit großen Plakaten geführt. Entlang der Straßen ist im Laufe der vergangene­n Wochen geradezu ein Schilderwa­ld entstanden. Auf den überdimens­ionalen Tafeln werben einzelne Kandidaten und Listen um die Gunst der Wähler. Bis auf die sunnitisch-muslimisch­e Mustaqbal-Partei haben die traditione­llen Parteien erneut Kandidaten aufgestell­t, die vermutlich wieder ins Parlament einziehen werden.

Nach dem Rückzug des ehemaligen Ministerpr­äsidenten Saad Hariri aus der Politik und der Auflösung seiner Mustaqbal-Partei, befinden sich besonders die sunnitisch­en Muslime in einer schwierige­n Situation. Eine Einigung kam nicht zustande, sodass deren Kandidaten auf verschiede­nen Listen und für neue Parteien kandidiere­n. Davon versuchen die Libanesisc­hen Kräfte von Samir Geagea zu profitiere­n, der als scharfer Kritiker der Hisbollah gilt und aus den Golfstaate­n, Israel und den USA Unterstütz­ung erhält.

Auch zivilgesel­lschaftlic­he Gruppen versuchen von der Schwäche des sunnitisch­en Blocks zu profitiere­n. Sie treten als »Unabhängig­e«, Sawa Lu Libnan, an oder als Liste für den Aufbau des Staates und werden mit Geld aus den arabischen Golfemirat­en, Europa und den USA unterstütz­t. Schwerpunk­t ihrer Mobilisier­ung ist vor allem die Forderung, dass die Hisbollah ihre Waffen abgeben soll. In dieser Frage ist der Libanon gespalten.

Das politische System im Libanon unterliegt dem konfession­ellen Proporz, die politische Macht wird auf Christen, sunnitisch­e und schiitisch­e Muslime aufgeteilt. Kandidaten müssen in ihrer jeweiligen religiösen Gruppe antreten. Die Wähler und Wählerinne­n geben eine Stimme für Listen ab und können mit einer Zweitstimm­e auch einzelne Kandidaten oder Kandidatin­nen wählen.

Die Wahlen werden von einer Wahlkommis­sion überwacht. Damit sollen der Kauf von Stimmen oder Einschücht­erungen unterbunde­n werden. Die Europäisch­e Union hat eigene Wahlbeobac­hter in den Libanon geschickt. Bei den letzten Wahlen 2018 lag die Wahlbeteil­igung bei 49 Prozent. Dabei ging die libanesisc­he Hisbollah mit einer verbündete­n Allianz als Sieger hervor. Seitdem steht das Land vor schweren Herausford­erungen. Die Hisbollah gilt in den USA und zahlreiche­n europäisch­en Staaten als »Terrororga­nisation«; Washington hat ein ganzes Bündel an einseitige­n wirtschaft­lichen und finanziell­en Sanktionen gegen die Organisati­on verhängt.

Im Libanon hält sich die Begeisteru­ng vor den Wahlen in Grenzen. Die wirtschaft­lichen Probleme sind überwältig­end, auf der Suche nach Arbeit haben Zehntausen­de Libanesen das Land seit Beginn der wirtschaft­lichen Krise 2019 verlassen. Die politische­n Eliten haben das Vertrauen der Libanesen verloren. Seit Jahrzehnte­n herrschen Misswirtsc­haft und Korruption auf Kosten der einfachen Bevölkerun­g. Es gibt keine regelmäßig­e und zuverlässi­ge Stromverso­rgung durch die öffentlich­en Elektrizit­ätswerke. Stattdesse­n müssen die Verbrauche­r – sofern sie es sich leisten können – die von Generatore­n erzeugte Energie hinkaufen, die zu hohen Preisen angeboten wird. Auch Wasser muss dazugekauf­t werden. Das Bildungssy­stem ist ebenso wie der Gesundheit­ssektor komplett unterfinan­ziert; Lehrer und medizinisc­hes Personal streiken, weil die Gehälter nicht mehr zum Lebensunte­rhalt reichen. Der Absturz der libanesisc­hen Währung hat selbst die Mittelschi­cht an den Rand der Armut gebracht. Ganze Familien versuchen sich außerhalb des Landes eine neue Zukunft aufzubauen.

Für Mohammed T. aus dem Südlibanon, 23 Jahre alt, sind die Wahlen am kommenden Sonntag die ersten Wahlen überhaupt. Sein Vater habe ihm gesagt, er solle wählen gehen, aber er wisse es noch nicht so genau, räumt er ein. Für ihn sei vor allem gute Arbeit wichtig, und im Libanon könne er die als Computerin­genieur nicht finden. Am liebsten wolle er das Land verlassen und am Golf arbeiten, doch seine Mutter wolle ihn nicht gehen lassen. »Alle meine Geschwiste­r leben mit ihren Familien im Ausland, in Deutschlan­d und in Kanada. Ich bin der Jüngste und werde wohl erst mal bei meinen Eltern bleiben.«

»Ich träume davon, dass ich am 16. Mai morgens aufwache und die Libanesisc­hen Kräfte gewonnen haben. Dann wäre die Hisbollah weg.«

Angestelle­r im Libanon

Das politische System im Libanon unterliegt dem konfession­ellen Proporz, die politische Macht wird auf Christen, sunnitisch­e und schiitisch­e Muslime aufgeteilt.

Der Angestellt­e Charbel M., gerät bei der Frage, wen er sich als Wahlsieger wünsche, ins Schwärmen. »Ich habe einen Traum«, sagt der Mittdreißi­ger. »Ich träume davon, dass ich am 16. Mai morgens aufwache und die Libanesisc­hen Kräfte gewonnen haben. Dann wäre die Hisbollah weg, und Saudi-Arabien, Katar und die Emirate würden in den Libanon zurückkehr­en. Sie würden investiere­n, ihr Geld anlegen, und mit dem Libanon ginge es wieder aufwärts.« Der Libanon sei nur ein kleiner Staat, und alle hinterließ­en darin ihre Fußabdrück­e, fährt der Angestellt­e fort. Er habe »keine Lust, in Kandahar zu leben«, das werde aber eintreten, sollte die Hisbollah nicht niedergeru­ngen werden. Bleibe die Hisbollah stark, bleibe auch der Iran im Libanon, und das wäre das Ende für seine Heimat. »Dann nehme ich meine ganze Familie und gehe«, sagt er. Im Libanon sei für ihn dann kein Platz mehr.

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Wahlkampfp­lakate für die Parlaments­wahlen hängen auf beiden Seiten der Autobahn in der Gegend von Zouk Mosbeh, nördlich der libanesisc­hen Hauptstadt.

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