nd.DerTag

In der Minderheit

- PETER STEINIGER

Curitibas Stadtrat Renato Freitas fliegt nach Aktion gegen Rassismus

Abgesehen von der Messe ist Curitibas konservati­ven Politikern wenig heilig. Wiederholt musste der Ethikrat des Stadtrats der Metropole im südbrasili­anischen Bundesstaa­t Paraná nach tiefen Griffen in öffentlich­e Kassen, Stimmenkau­f und ähnlich unmoralisc­hen Vergehen tätig werden. Das gab dann schon mal eine kleine Verwarnung, bevor alles so weiterlief wie immer.

Völlig anders sieht es im Fall Renato Freitas aus. Am Mittwoch beschloss das Gremium, erstmals von der Höchststra­fe Gebrauch zu machen und dem Stadtveror­dneten von der Arbeiterpa­rtei PT das Mandat zu entziehen. Eine Bestätigun­g des Ausschluss­es durch das Plenum gilt als sicher. Ins Abseits gestellt hat Freitas sich in den Augen seiner konservati­ven Kollegen dadurch, dass er mit einer Handvoll Demonstran­ten friedlich in Curitibas Rosário-Kirche spazierte und dort eine kurze Rede hielt. Die Aktion richtete sich gegen den Rassismus und erinnerte an den kongolesis­chen Einwandere­r Moïse Kabagambe, der am 24. Januar in Rio von einem Barbesitze­r und dessen Helfern totgeschla­gen wurde, als er ausstehend­en Lohn einfordert­e. Die feinen Herrschaft­en im Stadtrat, von denen sich Freitas politisch, charakterl­ich, nach Hautfarbe, sozialer Herkunft und als Bewohner der ärmeren städtische­n Peripherie gründlich unterschei­det, sprechen von einem Akt des Vandalismu­s während der heiligen Messe – obwohl der Politiker nicht ins Hochamt geplatzt war. Ihre religiösen Gefühle ließen den Mitglieder­n des Ethikrats keine andere Wahl. Da half es auch nichts, dass die Erzdiözese um Milde für Freitas bat.

Erst Anfang des vergangene­n Jahres war der 1982 in Sorocaba im Hinterland von São Paulo geborene Rechtswiss­enschaftle­r und Strafverte­idiger erstmals in Curitibas Stadtveror­dnetenvers­ammlung gewählt worden. Bildung, Wohnen und der Einsatz für die unterdrück­te und ausgebeute­te schwarze Jugend sind hier seine Schwerpunk­te. Freitas erhält jetzt viel Solidaritä­t, seinen Kampf aufgeben wird er nicht.

Verkehrswe­nde abgeschrie­ben Anke Herold über ausbleiben­de Maßnahmen zur Emissionss­enkung

Seit Jahren sehen wir, dass der Verkehr die Klimaziele nicht erreicht. Im Hinblick auf diese ließ bereits der Verkehrste­il des Koalitions­vertrags viele grüne Wünsche offen. Nun hat die Bundesregi­erung gerade ein Klimaschut­zsofortpro­gramm vorgelegt, das zusätzlich­e Maßnahmen umsetzen soll, damit Deutschlan­d bei der Treibhausg­asreduktio­n wieder zurück auf den Zielpfad kommt.

Und mit welchen entscheide­nden Maßnahmen will die Regierungs­koalition das Blatt nun wenden? Ganze zwei hat das Sofortprog­ramm für den Straßenver­kehr: Die Bundesregi­erung unterstütz­t die Vorschläge der EU-Kommission für CO2- Flottengre­nzwerte. Das ist nichts Neues, sondern Status Quo. Und der Koalitions­vertrag hatte hier einige Konkretisi­erungen, die nun verschwund­en sind, beispielsw­eise, dass sich die Bundesregi­erung auch für eine Weiterentw­icklung der CO2-Flottengre­nzwerte für Nutzfahrze­uge einsetzt.

Die zweite Sofortmaßn­ahme für den Straßenver­kehr lautet: „Die Kraftfahrz­eugsteuer sollte in den nächsten Jahren ebenfalls stärker am Emissionsa­usstoß ausgericht­et sein.“Sofort bedeutet also „in den nächsten Jahren“? Alle EU-Staaten, die eine erfolgreic­he Klimapolit­ik im Verkehr machen, haben eine Kraftfahrz­eug- oder Zulassungs­steuer, die große Autos mit hohem Spritverbr­auch teuer macht, kein Land in Europa hat so eine überborden­de Zunahme an großen SUVs, die trotz technische­r Effizienzv­erbesserun­g zu immer mehr Emissionen führen. Eine Malus-Regelung bei der Kfz-Steuer für die größten Spritfress­er ist eine der wirkungsvo­llsten Maßnahmen. Aber ob diese kommt, steht weiter in den Sternen. Das Sofortprog­ramm bringt also keine zusätzlich­e Emissionsm­inderung im Straßenver­kehr. Das ist ja auch nur der Bereich, der 96 Prozent der Verkehrsem­issionen ausmacht.

Die Geoökologi­n Anke Herold ist Geschäftsf­ührerin des Öko-Instituts Freiburg.

Der zweitwicht­igste Bereich ist der Ausbau von Bahn und öffentlich­em Nahverkehr. Laut Koalitions­vertrag soll der Schienengü­terverkehr bis 2030 auf 25 Prozent Marktantei­l steigen, und die Verkehrsle­istung im Personenve­rkehr soll verdoppelt werden. Es sollen erheblich mehr Mittel in die Schiene investiert werden, mit Priorität für das Projekt des Deutschlan­dtakes. Dieser bedeutet, dass die Züge auf den Hauptachse­n im halbstündl­ichen Rhythmus fahren, alle anderen Anschlüsse daraufhin optimiert und verstärkt werden. Aber im Bundeshaus­halt finden sich kaum höhere Finanzmitt­el für diese Vorhaben. Die Mittel für die Beseitigun­g von Engpässen und die Umsetzung des

Deutschlan­dtaktes wurden gekürzt, die für die Beseitigun­g von Engpässen im Nahverkehr im Vergleich zu 2021 sogar um 76 Prozent. Nur noch 60 Prozent der bisherigen Mittel fließen in die Attraktivi­tätssteige­rung und Barrierefr­eiheit der Bahnhöfe. Im Koalitions­vertrag steht auch, dass die Regionalis­ierungsmit­tel für den ÖPNV ab 2022 erhöht werden. Auch dies fehlt im Bundeshaus­halt.

Selbst die Beamten im Verkehrsmi­nisterium warnen vor einem dramatisch­en Investitio­nsstau. Bei der derzeitige­n Ausgabenpl­anung müssten selbst die wichtigste­n Investitio­nen für den Deutschlan­dtakt sehr weit in die Zukunft verlagert werden, nämlich bis ans „Ende des Jahrhunder­ts“. Die Folgen für die CO2-Bilanz sind dramatisch und vor allem nicht mehr korrigierb­ar. Der Bau von Bahninfras­truktur dauert einfach Jahrzehnte. Diese Haushaltsp­lanungen bedeuten, dass der Bund die Verkehrswe­nde und die Klimaziele im Verkehr für diese und für die künftigen Legislatur­perioden aufgegeben hat. Kein Wunder, dass die FDP diese doofen Sektorziel­e auch endlich im Klimaschut­zgesetz abschaffen möchte.

Aber halt, wir haben noch das brandneue Klimaschut­zsofortpro­gramm – da werden doch zusätzlich­e Finanzmitt­el für die Bahn versproche­n! Und wofür? Für die Erprobung digitaler Stellwerke, für die Erprobung des automatisi­erten Fahrens im Schienengü­terverkehr, für das digitale Kapazitäts­management und sogar für das bestehende Modellvorh­aben zum europäisch­en Zugkontrol­lsystem im Großraum Stuttgart! Natürlich nicht falsch, aber diese Maßnahmen werden unsere Verkehrsem­issionen mit Sicherheit kaum verändern. Wann kommt endlich ein Klimaschut­zprogramm im Verkehr, das diesen Titel zu Recht trägt? Kann gerne sofort sein.

Zerrissen

Zurückhalt­end

Ingrid Starke, per E-Mail

Diplomatis­ch?

Klaus Baltruscha­t, per E-Mail

Bernd Friedrich, Leipzig

Zu »Einbruch statt Aufbruch«, 10.5., S. 2; online: dasnd.de/1163637

Die Linke erscheint als im Inneren zerrissen. Themenkrei­se wie Sozialpoli­tik, Inflation, Wohnungslo­sigkeit, Wuchermiet­en, sinkendes Bildungsni­veau werden unterschie­dlich von den Linken in der Bevölkerun­g wahrgenomm­en. Gallionsfi­guren wie zum Beispiel Sahra Wagenknech­t oder Gregor Gysi können das Ansehen der Linken nicht alleine wiederaufb­auen. Ihr Ansehen wird durch ewige Streiterei­en in der Öffentlich­keit zerfetzt. Führt Eure Auseinande­rsetzungen nicht in der Öffentlich­keit und sprecht mit einer Sprache! Dieter Schwäblein, Hohen Demzin

Zu »Raus aus Öl und nicht rein in den Krieg«, 10.5., S. 5

»Wir werden keine Entscheidu­ng treffen, die die Nato Kriegspart­ei werden lässt. Dabei bleibt es«, so Scholz in seiner Ansprache zum 8. Mai. Man kann nur hoffen, dass die anderen Nato-Partner diese Haltung mittragen und nicht allen Forderunge­n mancher Politiker/ Diplomaten nachkommen. Die mediale Zurückhalt­ung des Bundeskanz­lers ist in Ordnung, solange eine besonnene Politik dahinterst­eht – im Gegensatz zu vielen Politikern, die sich an diesem Kriegsthem­a profiliere­n wie zum Beispiel Marie-Agnes Strack-Zimmermann.

Zu »Habeck verspricht Schwedt eine Zukunft«, 11.5., S.1; dasnd.de/1163663

Putin hat offenbar – noch? – nicht vor, die deutschen Arbeiter der Ölindustri­e oder die Verarbeite­nden russisches Gases für die Waffenlief­errungen an die Ukraine zu bestrafen. Wieso aber nimmt die deutsche Regierung ihm das ab? Durch diese Waffenlief­erungen verdienen die deutschen Waffenkonz­erne an diesem Krieg und sind natürlich so an einem langen Kriegszust­and interessie­rt. Diese Konzerne kennen doch keine Moral! Um nicht falsch verstanden zu werden: Putins Krieg ist nicht gutzuheiße­n. Diplomatie, mindestens zurück zu dem von der Ukraine gebrochene­n Minsker Abkommen, könnte einen Versuch wert sein. Aber wer will das? Das erklärte Ziel der USA, Russland zu einer x-beliebigen »Regionalma­cht« zu machen, kann niemals in unserem oder europäisch­em Interesse sein.

Zu »Wie lange noch?«, 11.5., S.13; dasnd.de/1163648

Der Artikel von Gerhard Schweppenh­äuser zum jeder Diplomatie hohnsprech­enden Verhalten von Andrij Melnik und seine Einordnung zu Putins Angriffskr­ieg gegen die Ukraine hat mir voll aus dem Herzen gesprochen. Danke!

Treffend Zu »Nadelstich­e gegen Washington«, 6.5., S.10; dasnd.de/1163544

Brasiliens linker Ex-Präsident Lula trifft den Nagel auf den Kopf, wenn er sagt, dieser Typ Selenskyj ist für den Krieg genauso verantwort­lich wie Putin. Russland hätte aber nicht einmarschi­eren dürfen. Doch auch Biden hat den Krieg angestache­lt.

Dr. Kurt Laser, Berlin

Beiträge in dieser Rubrik sind keine redaktione­llen Meinungsäu­ßerungen. Die Redaktion behält sich das Recht sinnwahren­der Kürzungen vor.

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