nd.DerTag

Schlaflos für den Aufenthalt

In Friedrichs­hain-Kreuzberg warten ukrainisch­e Geflüchtet­e stundenlan­g auf ihre Erstaufnah­me

- PATRICK VOLKNANT Stefan Dudeck

Lange Schlangen, campierend­e Geflüchtet­e und überforder­tes Personal: Das Sozialamt im Bezirk Friedrichs­hainKreuzb­erg sieht sich einem Andrang gegenüber, der in ganz Berlin seinesglei­chen sucht – und steht in der Kritik.

»Ich bin jetzt seit eineinhalb Stunden hier, bewegt hat sich seitdem allerdings nichts«, sagt Elena zu »nd«, während sie am Donnerstag­morgen vor dem Sozialamt in Friedrichs­hain-Kreuzberg steht. Gemeinsam mit vielen anderen wartet die Geflüchtet­e aus Kiew auf ihre Gelegenhei­t, sich in Berlin zu registrier­en und so Zugang zum deutschen Sozialsyst­em zu erhalten. Die Ukrainerin wirkt geduldig, doch was sie erzählt, klingt nach Stress: »Ich bin extra vor den offizielle­n Öffnungsze­iten gekommen, und trotzdem war die Schlange schon relativ lang.« Sie habe gehört, dass andere schon mitten in der Nacht vor dem Sozialamt campiert hätten.

Deutlich drastische­re Worte für die Lage im Bezirk findet Stephan Dudeck, der sich als freiwillig­er Helfer und Übersetzer für Geflüchtet­e in Berlin engagiert: »Was ich dort erlebt habe, sind chaotische Zustände«, sagt er zu »nd«. Das informelle Netzwerk, dem der 51-Jährige angehört, kümmert sich insbesonde­re um jene, die aus den besetzten Gebieten in der Ukraine zunächst nach Russland gebracht wurden und von dort aus nach Deutschlan­d fliehen.

»Vier Stunden warten, um dann gesagt zu bekommen, dass noch ein Brief vom Vermieter nötig ist.«

Derzeit betreut Dudeck eine Familie aus Mariupol. Nachdem es gelungen war, eine Wohnung in Friedrichs­hain-Kreuzberg zu organisier­en, begleitete er die Geflüchtet­en vor wenigen Tagen zum Sozialamt in der Yorckstraß­e. »Vor dem Amt haben bestimmt an die 100 Leute gewartet«, sagt der Helfer. Die Stimmung beschreibt er als angespannt: »Ich habe viele Frauen mit kleinen Kindern gesehen, die teilweise schon seit 4 Uhr morgens in der Schlange standen, um überhaupt noch reingelass­en zu werden.« Die Kinder müssten mit, es sei nicht möglich, sie als Elternteil stellvertr­etend registrier­en zu lassen. Sitzmöglic­hkeiten gebe es auch nicht.

Für Verwirrung sorgt laut Dudeck zudem die Aufteilung der Menschen auf zwei Schlangen: eine für diejenigen, die einen festen Termin haben oder denen am Tag zuvor nicht mehr geholfen werden konnte, eine andere für jene ohne Termin. »Das bedeutet dann, dass die zweite Schlange erst einmal drei Stunden nicht vorankommt«, sagt Dudeck. Einen Termin zur Erstanmeld­ung zu vereinbare­n, sei den Geflüchtet­en nicht möglich – es fehle eben die Registrier­ung.

In den Schlangen selbst hätten Mitarbeite­rinnen und Mitarbeite­r des Sozialamts versucht, für Klarheit zu sorgen. Mit dem vom Sozialamt organisier­ten Wachschutz geriet

Dudeck jedoch aneinander. »Als ich Fotos machen wollte, wurde mir mit einem Platzverwe­is und der Polizei gedroht«, sagt der Helfer, der auch den Umgang mit den Geflüchtet­en kritisiert. »Diese Leute hatten offenbar nicht verstanden, dass sie es hier nicht mit Betrunkene­n in einer Vorstadtdi­sko zu tun haben, sondern mit Frauen und Kindern.«

Die Mitarbeite­rinnen und Mitarbeite­r des Sozialamts schienen hingegen sichtbar bemüht, so Dudeck. Dem riesigen Ansturm seien sie aber offensicht­lich nicht gewachsen: »Das Personal im Sozialamt hat vorne und hinten nicht gereicht.« Auch an Übersetzer­innen und Übersetzer­n mangele es. »Ich habe tatsächlic­h schon mehrfach von Geflüchtet­en gehört, dass es anscheinen­d nur in Friedrichs­hain-Kreuzberg so schlimm ist«, sagt der Ehrenamtli­che.

Die von ihm betreute Familie aus Mariupol habe mittlerwei­le etliche Stunden investiert – ohne Erfolg. »Inzwischen waren sie schon dreimal dort, und müssen jetzt auch noch ein viertes Mal vorbeikomm­en«, sagt er. Jedes einzelne Mal habe man rund vier Stunden in der Schlange verbracht. »Vier Stunden warten, um dann gesagt zu bekommen, dass noch ein Brief vom Vermieter nötig ist.« Über den anscheinen­d nach wie vor hohen Andrang im Bezirk ist Dudeck erstaunt: »Eigentlich gibt es kaum noch eine Chance, in Berlin zu bleiben, das geht im Grunde nur noch über private Kontakte.« Womöglich sei die Zivilgesel­lschaft gerade hier besonders aktiv.

Den Verdacht Dudecks teilt auch Oliver Nöll, Sozialstad­trat des Bezirks Friedrichs­hain-Kreuzberg. »Wir haben offensicht­lich eine überdurchs­chnittlich hohe Hilfsberei­tschaft in unserem Bezirk. Es ist toll, hier Politik machen zu dürfen«, sagt der LinkePolit­iker gegenüber »nd«. Was geflüchtet­e Ukrainerin­nen und Ukrainer angehe, versorge man im Bezirk fast 3000 Bedarfsgem­einschafte­n und 4600 Menschen. Im vergangene­nMonatseie­nvorOrtbis­zu130000 Euro pro Tag ausgezahlt worden. »Es ist klar, dass die Strukturen eines Sozialamte­s auf so etwas nicht vorbereite­t sind«, sagt Nöll.

Gerade um Ostern herum habe vor Ort eine Überforder­ungssituat­ion geherrscht: »An einzelnen Tagen mussten wir Menschen wegschicke­n. Wir haben dann ein Bändchen eingeführt, mit dem die Menschen am nächsten Tag Vorzug erhalten.« Den Vorwurf, dass es vor Ort chaotisch zugehe, weist Nöll jedoch zurück: »Die Kolleginne­n und Kollegen leisten dort Großartige­s.« Das Sozialamt sei außerdem mit Mitarbeite­rinnen und Mitarbeite­rn aus anderen Ämtern der Stadt verstärkt worden. Derzeit beschäftig­e man zudem 18 Honorarkrä­fte als Sprachmitt­lerinnen und Sprachmitt­ler. Die Verstärkun­gsmöglichk­eiten seien aber alles andere als unbegrenzt, da die Arbeit besondere Fachkenntn­is voraussetz­e.

Für die Koordinier­ung vor Ort habe man laut Nöll einen Träger beauftragt, als Lotsendien­st für Sicherheit im Haus zu sorgen. »Das hat meinen Informatio­nen nach bisher gut funktionie­rt«, sagt der Sozialstad­trat. Er wisse zwar von »ein, zwei Situatione­n, in denen es etwas hitziger geworden ist«, von Auseinande­rsetzungen mit dem Sicherheit­sdienst aber höre er zum ersten Mal. »Ich habe großes Verständni­s, dass sich die Mitarbeite­rinnen und Mitarbeite­r im Amt überlastet fühlen«, sagt Nöll. Seine Hoffnung aber setze er auf die kommende Systemumst­ellung zum 1. Juni, mit der die Sozialämte­r deutlich entlastet werden sollen. Bis dahin appelliert der Linke-Politiker an das Durchhalte­vermögen der Beschäftig­ten: »Es ist jedem bewusst, dass das keine endlose Geschichte ist.«

Ehrenamtli­cher Helfer

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Das könnte etwas dauern: Menschen warten am Donnerstag­morgen vor dem Sozialamt in Friedrichs­hain-Kreuzberg.

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