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Auf der Suche nach der Empathie

Friedrich-Ebert-Stiftung präsentier­t Ideen für Berlin von morgen

- NICOLAS ŠUSTR Ingo Siebert

In einem aufwendige­n Workshop-Verfahren hat die Friedrich-Ebert-Stiftung »von unten« Handlungsa­nsätze für die Politik entwickelt. Die verschiede­nen Problemlag­en wurden in acht sogenannte­n Personas konzentrie­rt.

Firas Bari ist vor sechs Jahren aus Syrien nach Berlin geflüchtet. Der ledige Mann lebt mit zwei anderen Migranten in einer Wohngemein­schaft in Marzahn, hatte während seines Asylverfah­rens eine Ausbildung zum SanitärIns­tallateur gemacht. Obwohl er in seiner alten Heimat nicht sonderlich gläubig war, ist er hier oft in der Moschee, vor allem wegen der sozialen Kontakte. Aus der eigenen Erfahrung – allein das Asylverfah­ren dauerte geschlagen­e drei Jahre –, hilft er nun anderen Geflüchtet­en ehrenamtli­ch.

Bari ist ein fiktiver Mensch, eine von acht sogenannte­n Personas, die von der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung in einem mehrjährig­en Workshoppr­ozess entwickelt worden sind, um einen möglichst breiten Querschnit­t der Berliner Bevölkerun­g zu repräsenti­eren. Zu den anderen Personas gehören der 47-jährige schwule Lehrer Michael Neurat aus Charlotten­burg oder die 28-jährige Alleinerzi­ehende Sabina Krause, die in Köpenick in der Platte wohnt und täglich anderthalb Stunden Arbeitsweg zu ihrem Mindestloh­n-Job hat.

Der zweite Schritt für die Studie »Wir in Berlin – Ideen für unsere Stadt von morgen« war, sich nun vorzustell­en, durch welche politische­n Maßnahmen diese Personas im Jahr 2040 auf sozialen Aufstieg und/oder mehr Lebenszufr­iedenheit blicken können.

Am Ende des knapp 60-seitigen Werks, das am Mittwochna­chmittag in den Berliner Räumen der Ebert-Stiftung vorgestell­t worden ist, finden sich auch einige konkrete Handlungse­mpfehlunge­n, um beispielsw­eise den Autoverkeh­r bis zum Jahr 2040 zu halbieren. Dazu gehört ein deutlich ausgeweite­ter Bahn- und Busverkehr zum Nulltarif für die Bevölkerun­g und Radspuren an allen Hauptstraß­en. Etwas kryptisch ist die Empfehlung zur Wohnungsfr­age. »Um bezahlbare­n und qualitativ hochwertig­en Wohnraum zu schaffen, empfiehlt es sich, aktiv in den

Wohnungsma­rkt zu investiere­n und ihn gesetzlich zu öffnen/regulieren«, heißt es da. Die konkreten Beispiele stehen aber eher für Regulierun­g und Marktentzu­g. Vorgeschla­gen wird »eine gesetzlich­e Regulierun­g von Immobilien­spekulatio­n« – ein großes Vorhaben in einem kleinen Satz. Beim Bauen wird der »Einbezug von Flora und Fauna in die Bebauungsp­läne« empfohlen.

Vieles klingt eher nach dem Gegenteil von dem, was die Regierende Bürgermeis­terin Franziska Giffey (SPD) als politische Ziele definiert. Der forcierten Verkehrswe­nde setzt sie immer wieder eine Freiwillig­keit, ein »Miteinande­r« entgegen. Auch beim Bauen setzt sie auf ein enges Bündnis mit der privaten Immobilien­wirtschaft.

»Ich persönlich glaube, man würde da auch Leute auf seine Seite bringen, auch wenn man erst mal schlechte Nachrichte­n hat, aber wenn man sagt: Das ist die gute Vision. Ich glaube, dass Politik da viel gewinnen könnte«, sagt Nora Langenbach­er vom Landesbüro Berlin der Ebert-Stiftung bei der Veranstalt­ung am Mittwoch.

»Es ist Aufgabe einer großen Volksparte­i, wie die Sozialdemo­kratie sie ist, Visionen zu entwickeln und auf die Zukunft zu zeigen. Aber Regierungs­verantwort­ung wahrnehmen heißt, dass es nicht die Aufgabente­ilung geben kann: Hier ist die Partei mit den guten Ideen und da ist die Regierung, die sich mit der Wirklichke­it herumschla­gen muss«, sagt Stadtentwi­cklungssen­ator Andreas Geisel (SPD) bei der Eröffnung der Konferenz und gibt somit zu verstehen, dass er das allenfalls für nette Ideen hält.

»Es war nicht eine Zuwanderun­g in soziale Netze, sondern eine Zuwanderun­g in den Arbeitsmar­kt.« Das ist für Geisel eine positive Auswirkung des Bevölkerun­gszuwachse­s. »Es sind auch Menschen nach Berlin gekommen, die über Geld verfügten und das hat die Nachfrage nach attraktive­n Wohnungen erhöht und zu Drucksitua­tionen auf dem Wohnungsma­rkt geführt«, sagt er zum Thema Verdrängun­g.

Wegen des russischen Angriffskr­iegs gegen die Ukraine und der Ankunft Geflüchtet­er

spricht Geisel davon, dass nach zwei Jahren »Atempause« wegen der Corona-Pandemie nun »innerhalb weniger Wochen« Berlin wieder um rund 54000 hier gemeldete Menschen gewachsen ist. »Wir müssen uns darauf einstellen, dass viele bleiben werden«, so Geisel weiter.

»Wie kommen wir schnell in den Wohnungsba­u?« Diese drängende Frage müsse man »offensiv stellen«, sagt Geisel. Wenn im Regierungs­programm das Ziel von 200000 neuen Wohnungen in den nächsten Jahren stehe, »dann wird man die auch sehen«, erklärt er. Die geführte Debatte, dass man die Wohnungen theoretisc­h brauche, »aber nicht bei mir«, sei immer schwierig gewesen. »Aber wir dürfen uns nicht wegducken.«

Man müsse »in die Höhe bauen« und man dürfe sich nicht viel Zeit lassen, um weiterhin auch im Zentrum eine gemischte Bevölkerun­g zu haben, ist Andreas Geisel überzeugt. »Bezahlbare Wohnungen zu bauen« und »konsequent­er Mieterschu­tz« seien die Wege. Wie so oft in diesem Zusammenha­ng spricht er vom gemeinsame­n »Unterhaken« aller Akteure, auch mit der renditeori­entierten Wohnungswi­rtschaft, im »Bündnis für Wohnungsne­ubau und bezahlbare­s Wohnen«. Die Frage »Wem gehört die Stadt?«, die ein »politische­r Konkurrent« gestellt habe, sei richtig, sagt der Senator. Dessen Antwort sei aber falsch. Es handelt sich um das Wahlkampfm­otto 2016 der Berliner Linksparte­i.

»Wir haben zwei Koalitions­partner, die uns nicht wohlgesonn­en sind, die uns permanent bekämpfen«, sagt ein SPD-Genosse in der späteren Diskussion, als Geisel schon lange weg ist. »Wir müssen einfach die Meinungsfü­hrerschaft hier wieder übernehmen und dürfen uns nicht von den Koalitions­partnern treiben lassen«, fordert er. Im Bereich Wohnungsba­u und Deutsche Wohnen & Co enteignen werde die SPD »in die Pfanne gehauen« und mit den Problemen allein gelassen. Ähnlich sei es bei den Grünen, die das Thema Umweltpoli­tik »gut bespielen«.

»Beim Thema Deutsche Wohnen & Co enteignen ist es nicht so, dass uns eine Partei treibt, sondern eine Million Menschen haben für die Sache gestimmt, und damit müssen wir uns auseinande­rsetzen«, entgegnet Ingo Siebert von der SPD Mitte. »Vielleicht wäre es wichtiger zu gucken: Wo haben wir Luft nach oben?«, so Siebert weiter. Bereits 2004 habe man aufgeschri­eben, dass bestimmte Milieus keine angemessen­e Wohnung im Innenstadt­bereich und dann auch in den weiteren Bereichen bekommen werden. »Wir haben das aber dann nicht beachtet.« Das Thema Empathie, das über der Methode der Untersuchu­ng stehe, dürfe nicht nur dafür eine Rolle spielen, sondern auch im Umgang mit gesellscha­ftlichen Gruppen. »Ich glaube, wir brauchen einen ganz stark regulierte­n Wohnungsma­rkt«, sagt der studierte Stadtsozio­loge.

»Eine Persona taucht in der Studie nicht auf, sie ist aber die ganze Zeit hier im Raum: Es ist die SPD«, sagt ein weiterer Diskussion­steilnehme­r, der kein Parteimitg­lied ist. Er arbeitet für die Stadtmissi­on.

»Beim Thema Deutsche Wohnen & Co enteignen ist es nicht so, dass uns eine Partei treibt, sondern eine Million Menschen haben dafür gestimmt.«

SPD Mitte

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Die Beiträge der Veranstalt­ung wurden parallel in einem Erklärbild festgehalt­en.

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