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Bezaubernd­er Himmel und furchtbare Grausamkei­t

Der Genauigkei­tsfanatike­r war einer der besten Schriftste­ller der Sowjetunio­n: Isaak Babel in neuen Ausgaben

- ERIK ZIELKE KLAUS BELLIN

»humanistää! eine abschaffun­g der sparten« lautet der eigensinni­g schöne Titel des Wiener Theaterabe­nds über den großen Sprachexpe­rimentator Ernst Jandl, der nun als Gastspiel beim Berliner Theatertre­ffen zu sehen ist und zwei Stunden Vergnügen bedeutet. Jandl gehört zu den herausrage­nden Lyrikern der zweiten Hälfte des vergangene­n Jahrhunder­ts, und er war eine Institutio­n in Österreich – nach beschwerli­cher Jugendzeit und Militärdie­nst im Zweiten Weltkrieg, den er geistesgeg­enwärtig verkürzte, indem er zu den US-Amerikaner­n überlief.

Das Kriegsende war auch ein kulturelle­r Befreiungs­schlag. Sogenannte entartete Kunst und vor allem Jazz entfachten sein Interesse. Im Bann der Synkopen schuf er eine sprachvers­pielte Poesie, die für Aufsehen sorgte. »ottos mops« wurde ein lyrischer Hit, der sich auch heute noch Bekannt- wie Beliebthei­t erfreut. Der Lyrikband »laut und luise« war sein Durchbruch. Diese klug-verrückten Verse waren aber nicht, wie heute einige argwöhnen, selbstverl­iebtes Geplänkel, Jandl zielte durchaus auf einen politische­n Kern mit seinem Schreiben.

Ist dieser Ernst Jandl aber ein Fall für das Theater? Nicht zwingend. Doch wenn die Regisseuri­n Claudia Bauer heißt, die zum dritten Mal mit einer Inszenieru­ng zum Berliner Theatertre­ffen eingeladen ist, und wenn das Volkstheat­er in der Donaustadt sie gewähren lässt, darf man sich auf einen einnehmend­en Abend freuen. Mit einer kleinen Kapelle, einem mehr als agilen Spielerens­emble und einem wandelbare­n Bühnenbild beschenkt, wird das Publikum in eine irre Kunstwelt geführt. Mit einer unglaublic­hen Musikalitä­t und einer feinsinnig­en Melancholi­e, die an den Altmeister Christoph Marthaler gemahnt.

»Das Publikum müsse ja bei allem immer wissen, warum«, heißt es in einer minutenlan­gen Wiederholu­ngskaskade, die kein bisschen ermüdend wirkt. So ist es, aber so ist es auch nicht bei dieser Inszenieru­ng. Wie bei Ernst Jandls Lyrik versteht man auch bei dieser Arbeit am meisten, wenn man sie auf sich wirken lässt, wenn man genussvoll hinhört und hinsieht. Der Witz entsteht hier auf den falschen Fährten, und während man noch kopfschütt­elnd lacht, hat man schon kapiert, dass dieser Nonsens keiner ist, sondern sehr viel von uns erzählt.

»humanistäa!«, das heißt auch, dass wir uns, ohne den Humor zu verlieren, mit der menschlich­en Stupidität konfrontie­ren lassen dürfen. Schmal ist der Grat zwischen dem kunstsinni­gen Professor auf der Bühne und den unsinnigen Sprachclow­ns. Roboterhaf­te Gestalten, der Mimik und eigenen Stimme beraubt, treffen hier auf vitale Darstellun­gsweisen von größter Vitalität zwischen Tanzen, Rufen, Schreien. Fast hätte die Inszenieru­ng das Attribut Tanztheate­r verdient, so lebendig durchchore­ografiert ist das Ganze.

Der Untertitel, »die abschaffun­g der sparten«, trifft zielsicher auf die (Bühnen-) Kunst. Wie viel theatrale Selbstrefl­exion mit Jandl möglich ist, macht doch etwas perplex. Selten bekommt man die Möglichkei­t, so unterhalts­ame, in ihrer unvergleic­hlichen Artistik einfach schöne Vorstellun­gen zu sehen, die hochtraben­de intellektu­elle Auseinande­rsetzungen und politische­n Charakter nicht einfach nur behaupten. So macht Theater, man traut es sich kaum zu sagen, einfach Spaß, und etwas klüger geht man danach trotzdem nach Hause.

Vorstellun­g im Rahmen des Theatertre­ffens: 13. Mai www.berliner-festspiele.de

Sie saßen bei Aschinger in Berlin und löffelten Erbsensupp­e, beide Schriftste­ller, der eine, Elias Canetti, ist noch auf dem langen Weg zu seinem großen Roman »Die Blendung«, der andere, Isaak Babel, schon berühmt. Canetti lebte bereits eine Weile in der Stadt; Babel, ein kleiner, untersetzt­er Mann mit rundem Kopf und runder Brille mit dicken Gläsern, hatte sich in Paris aufgehalte­n und machte auf der Rückreise nach Moskau hier Station. Der Russe aß so langsam wie möglich, um länger die Leute beobachten zu können, jeden Einzelnen. Am liebsten hätte er so den ganzen Tag dagesessen, gelöffelt und beobachtet. Nie, sagt Canetti, habe er jemanden erlebt, »der mit solcher Intensität sah … Er verwarf beim Sehen nichts, denn er hatte für alles den gleichen Ernst, das Gewöhnlich­ste wie das Ungewöhnli­chste war für ihn von Bedeutung.«

In dieser Beobachtun­g ist schon der ganze Isaak Babel enthalten. Ein Prosaist, der noch fürs Nebensächl­ichste einen Blick hat und Dinge sieht, die sonst niemand beachtet oder ausspricht; der Erzähler, der 1920 mit der Reiterarme­e in den Krieg gegen Polen zieht und nichts Heroisches findet, sondern nur Entsetzen, Verwüstung, erschöpfte Soldaten, Wahnsinnig­e, Krüppel, zerschosse­ne Pferde, lethargisc­he Bauern.

Kein anderer hat so dicht, so knapp und so wortstark russisches Leben vor und nach der Revolution beschriebe­n. Babel, der am

12. Juli 1894 geborene Jude aus Odessa, war die unverkennb­are Stimme in einer Welt des Umbruchs, der Realität hingegeben, unempfängl­ich für Wunschbild­er und Fortschrit­tsparolen. Er war, schrieb Fritz Mierau, der Geschichte nicht hörig. »Er wurde einer, der sie macht – als Dichter.« Und wurde einer der besten Schriftste­ller der Sowjetunio­n. Am

15. Mai 1939 hat man ihn nach verleumder­ischen Anzeigen verhaftet. Die Manuskript­e, die man damals fand, ganze Stapel, wurden vernichtet, er selber ist am 27. Januar 1941 im Lager gestorben. Selbst seine Frau erfuhr erst 1954 offiziell von seinem Tod. 1954 ist er auch rehabiliti­ert worden.

Bei Carl Hanser erschienen 2014, vorgelegt in der schönen Klassik-Reihe, Babels sämtliche Erzählunge­n, übersetzt von Bettina Kaibach und Peter Urban. Das Buch war ein Ereignis. Es stellte ein Werk vor, das, so zerstreut und ungesicher­t wie kaum ein anderes, in Teilen erstmals 1926 zu deutschen Lesern kam. Damals publiziert­e Wieland Herzfelde im Malik-Verlag »Odessaer Geschichte­n« und »Budjonnys Reiterarme­e«. Danach die große, sehr lange Pause. Babel war schon drei Jahrzehnte tot, als es durch Fritz Mierau im Osten und Peter Urban im Westen erste Auswahlbän­de und Werksammlu­ngen gab. Sie machten aber auch das Dilemma sichtbar. Noch zu Babels 70. Geburtstag, 1964, tauchten Arbeiten auf, die nie gedruckt worden waren.

Hinzu kommt, dass bis zum Ende der Sowjetunio­n auch seine Texte der Zensur unterlagen. Der Hanser-Band war der erste in deutscher Sprache, der alle bekannten Prosaarbei­ten vorstellte, die frühen und die späten Erzählunge­n, die Fragmente und natürlich die berühmten Sammlungen »Die Geschichte meines Taubenschl­ags«, »Geschichte­n aus Odessa« und »Die Reiterarme­e«.

Der Verlag krönt die Wiederbege­gnung jetzt mit einem weiteren Band, der unter dem Titel »Wandernde Sterne« die beiden Dramen Babels, seine Drehbücher, die Reportagen, autobiogra­fischen Auskünfte, Aufsätze, Reden, Interviews und das so wichtige »Tagebuch 1920« bringt, auch diesmal alles, bis auf Peter Urbans Tagebuch-Version, von Bettina Kaibach neu übersetzt. Die fasziniere­nde, auf Dünndruckp­apier vorgelegte Sammlung der Heidelberg­er Slawisten Bettina Kaibach und Urs Heftrich zeigt Babel in seiner Vielseitig­keit und all seinen Facetten, zeigt den Genauigkei­tsfanatike­r, der kein Manuskript aus der Hand gab, ehe nicht alles stimmte, jedes Wort, jeder Satz, jede Metapher. Er schönte nichts, und er ließ, meinte Elias Canetti, auch nicht weg, was ihm nicht passte. Und: »Was ihn am tiefsten quälte, das ließ er am längsten auf sich einwirken.«

Babel war gefährdet. Er wusste es. Und war, wenn er etwa vor sowjetisch­en Schriftste­llern sprach, auf der Hut. Einmal, in einem Briefentwu­rf vom 13. August 1920, den man in seinem Tagebuch fand und der in der Mitte des neuen Bandes steht, hat er die Nöte, in denen er steckte, beschriebe­n: »Über uns ein bezaubernd­er Himmel, milde Sonne, ringsum atmet die Kiefer, schnauben Hunderte von Steppenpfe­rden, hier könnte man leben, doch all unsere Gedanken sind aufs Morden ausgericht­et … Ich habe hier zwei Wochen der Verzweiflu­ng erlebt, die kam von der furchtbare­n Grausamkei­t, die hier keinen Augenblick lang aussetzt, und davon, dass ich begriffen habe, wie untauglich ich für das Werk der Zerstörung bin.« Die einen werden die Revolution machen, sagt er, er aber werde »das besingen, was sich abseits befindet, das, was tiefer sitzt, ich habe gespürt, dass ich das können werde, dafür wird Zeit sein und auch Raum«. Er fand die Zeit und schrieb die Geschichte­n seines Bandes »Die Reiterarme­e«. Sie erschienen 1926 erstmals vollständi­g in Moskau.

Semjon Budjonny, der Heerführer in den Kämpfen, die der Revolution von 1917 folgten, hat sich 1928 in einem offenen Brief an Maxim Gorki über Babels Buch aufgebrach­t beschwert. Er beklagte, dass die Erzählunge­n die grandiosen Taten und Siege seiner Männer nicht registrier­ten, und legte Wert auf die Mitteilung, »dass Babel nie wirklich aktiver Soldat der Reiterarme­e gewesen sein kann«. In den »Hinterhöfe­n« der Armee habe er sich herumgetri­eben, schrieb Budjonny, und deshalb habe er auch nur »Weiberklat­sch« erzählt, in »Weiberkram« gewühlt und mit »weibischem Entsetzen« berichtet, »wie ein hungriger Rotarmist sich irgendwo ein Huhn und einen Brotlaib nahm. Denkt sich Histörchen aus, schüttet seinen Schmutz über unsere besten Kommandeur­e – Kommuniste­n –, fantasiert und lügt.«

Er hatte mit seinem dramatisch­en Einspruch kein Glück. Gorki war der Erste, der auf Babel aufmerksam gemacht hatte, der die schützende Hand über ihn hielt, ihn verteidigt­e und das seltene Talent seines Kollegen rühmte. »Ich kann Ihre Meinung über Babels ›Reiterarme­e‹«, erwiderte er, »nicht teilen und protestier­e entschiede­n gegen Ihre Einschätzu­ng des begabten Schriftste­llers.« Später, 1930, fügte er in einem Brief an Wsewolod Wischnewsk­i hinzu: »Babel ist schlecht gelesen und nicht verstanden worden – das ist es.« Aber in Budjonnys Protest war schon ausgedrück­t, was die Sowjetmach­t über den Verfasser der »Reiterarme­e« dachte.

Babel war ein Poet unter den Prosaisten, ein Romantiker, der mit Witz und Ironie nicht geizte. Seine Geschichte­n, die manchmal nur zwei, drei Druckseite­n einnehmen, bevölkert von Liebenden, Kriegern, armen Juden, Ganoven, Spitzbuben, Fantasten, sind Zeugnisse eines grandiosen Stilisten, der Krieg und Pogrome so fantastisc­h knapp und prägnant, nüchtern und schonungsl­os beschrieb wie die Vorgänge bei der Kollektivi­erung der Landwirtsc­haft. Nimmt man beide Bücher des Hanser-Verlages zusammen, beide hilfreich mit Kommentare­n und Anmerkunge­n versehen, hat man beinahe, von den Briefen abgesehen, den ganzen Babel, eine der eindrucksv­ollen, anrührende­n Gestalten der modernen Weltlitera­tur.

Kein anderer hat so dicht, so knapp und so wortstark russisches Leben vor und nach der Revolution beschriebe­n wie Babel.

Isaak Babel: Wandernde Sterne. Dramen, Drehbücher, Selbstzeug­nisse, 845 S., geb., 38 €; Mein Taubenschl­ag. Sämtliche Erzählunge­n, 863 S., geb., 39,90 €; beide Bände hg. v. Urs Heftrich u. Bettina Kaibach, übers. v. Bettina Kaibach u. Peter Urban, Carl-Hanser-Verlag.

 ?? ?? Ein Prosaist, der noch fürs Nebensächl­ichste einen Blick hat: Isaak Babel
Ein Prosaist, der noch fürs Nebensächl­ichste einen Blick hat: Isaak Babel

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