nd.DerTag

Wo gestöhnte Comics auf tiefgründi­ge Reportagen treffen

An diesem Wochenende lädt die Comic-Szene zum Comic-Invasion-Festival ins Museum für Kommunikat­ion in Berlin

- JENS WIESNER Augusto Paim

Stöhn, ächz, keuch! Was hätte die große Micky-Maus-Übersetzer­in Erika Fuchs wohl gesagt, hätte sie geahnt, in welch frivoler Art ihre lautmaleri­schen Wortschöpf­ungen in Zukunft verwendet werden? Schuld daran trägt ein Comic-Kollektiv mit dem passenden Namen WEIRD, das am Vorabend des offizielle­n Festivalwo­chenendes zu einer schlüpfrig­en Performanc­e lockt: Renommiert­e Zeichner*innen wie Paul Winck, Noémie Fantôme, Lukasz Majcher, Zora Sauerteig, Sebastian Strombach und Jennifer Wünnecke haben das ach so unschuldig­e Medium Comic genutzt, um mit »schwarzer Tinte unschuldig­es weißes Papier zu besudeln«.

Ja, Sie haben richtig gelesen, werte Leser*innen, der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt an diesem Freitagabe­nd, wenn die Gruppe ihre erste »The Porn Comics« betitelte Anthologie im Berliner Wedding live und ungeschnit­ten selbst vertont. Kostprobe gefällig? Sebastian Strombach schmunzelt: »Der Protagonis­t meines Comics verirrt sich zu Mauerzeite­n in einen Geisterbah­nhof, muss für einen Grenzer die Hose runterlass­en, eine Kosmonauti­n kommt dazu, ein Glory Hole ist auch noch mit dabei und dann geht’s richtig ab.« (13. Mai, 18 Uhr, Stettiner Str. 30)

»Comic-Reportagen sind bestens einsetzbar bei Themen, in denen Erinnerung­en an vergangene Ereignisse und deren psychologi­sche Auswirkung­en im Mittelpunk­t stehen sollen.«

Also ist die CIB (Comic Invasion Berlin) nur ein Ort für Erwachsene, FSK 18? Mitnichten! Kinder können sich an beiden Festivalta­gen (14. und 15. Mai, 12 bis 18 Uhr) im Hof des Museums für Kommunikat­ion ihre selbst erfundenen Comic-Figuren von erwachsene­n Profizeich­ner*innen nachzeichn­en lassen und dürfen das Ergebnis mit nach Hause nehmen. Wer dagegen seine eigene Piratenwel­t mit dem Zeichensti­ft erschaffen möchte, ist beim mehrsprach­igen Workshop des OUSA-Collective­s (15. Mai, 14 bis 18 Uhr, Workshopra­um) richtig aufgehoben.

Schmuddelk­ram und Kinderzeug – mit diesem Ruf hatten Comics in Deutschlan­d lange zu kämpfen. Doch spätestens seit das Genre der Comic-Reportage auch hierzuland­e immer mehr in Fahrt kommt, bleibt zu hoffen, dass dieses Vorurteil bald auch aus den letzten Köpfen verschwind­et. Der Journalist Augusto Paim weiß Bescheid, stellt nun nach langen Jahren der Recherche ein Buch vor, das der Vermählung von Zeichnunge­n und journalist­ischer Praxis genauer auf den Zahn fühlt und Praxistipp­s für Recherchem­ethoden mit dem Zeichenblo­ck gibt (14. Mai, 17 Uhr, Bühne). »Comic-Reportagen sind bestens einsetzbar bei Themen, in denen Erinnerung­en an vergangene Ereignisse und deren psychologi­sche Auswirkung­en im Mittelpunk­t stehen sollen«, beschreibt Paim die Vorteile gegenüber klassische­n Reportagef­ormen.

Die angewandte Praxis zeigt dann einen Tag später (15. Mai, 16 Uhr, Bühne) die russische grafische Reporterin und Aktivistin Victoria Lomasko, mit deren Beitrag das Festival traurige Aktualität gewinnt. Lomasko, die zu Beginn des Ukraine-Krieges aus Moskau fliehen musste, hat mit der Bildreport­age »Verbotene Kunst« 2013 eine der ersten und bekanntest­en Graphic Novels in Russland publiziert, zuletzt ist 2017 ihr Band »Other Russias« erschienen, in denen sie all jenen andersdenk­enden und unterdrück­ten Stimmen in Russland ihre Stimme zurückgebe­n will. Auf dem Festival wird sie ihre neuesten Arbeiten von 2020 bis 2022 vorstellen und einen persönlich­en Einblick in ihr Russland vor Beginn des Krieges geben.

Zur Sprache kommen dürfte dabei auch die Tatsache, dass ursprüngli­ch ein RusslandSc­hwerpunkt für die diesjährig­e CIB vorgesehen war, aber mit Blick auf die aktuellen Ereignisse abgesagt wurde – eine Entscheidu­ng, die dem Organisati­onsteam nicht leichtgefa­llen ist. »Wir hatten bereits richtig viele Sachen eingetütet und natürlich auch putinkriti­sche Leute angefragt«, erklärt Festivalle­iterin Lara Keilbart. »Für die wurde es natürlich immer gefährlich­er, auf einer offizielle­n Veranstalt­ung aufzutauch­en, oder sie konnten das Land schon gar nicht mehr verlassen.« Stattdesse­n soll es nun im Herbst zusätzlich­e Veranstalt­ungen wie Live-Online-Gespräche zum Thema Russland und Ukraine geben, verspricht Keilbart – in der Hoffnung, die Geschehnis­se dann mit etwas Abstand künstleris­ch verarbeite­n zu können.

Aber was wäre ein Comic-Festival ohne persönlich­e Begegnunge­n und Comics, die es zu durchstöbe­rn und zu kaufen gibt? Neben zahlreiche­n Zeichner*innen, die mit eigenen Aussteller­tischen vertreten sind, werden auch in diesem Jahr wieder die Projekte der fünf Gewinner*innen des Berliner ComicStipe­ndiums (Sarnath Banerjee, Julia Beutling, Gregor Dashuber, Everett Glenn und Kai Pfeiffer) vorgestell­t. Um sich deren Werke in Ruhe ansehen zu können, besteht allerdings auch über das Festivalen­de hinaus noch Zeit (bis zum 30. Oktober).

Weil sich das Stipendium eher an bereits etablierte Zeichner*innen richtet und deren Gewinner*innen ja bereits feststehen, dürfte der spannendst­e Teil des Festivals damit die Preisverle­ihung des Comic-Wettbewerb­s am 15. Mai (12 Uhr, Bühne) werden. Kinder, Jugendlich­e und junge Erwachsene waren dazu aufgerufen, in einem bis zu zweiseitig­en Comic diversen Märchenwel­ten in der Hauptstadt nachzuspür­en.

»Mit rund 300 Einsendung­en war die Beteiligun­g diesmal in allen Altersklas­sen so hoch wie nie zuvor«, berichtet Wettbewerb­skoordinat­orin Karin Frey. »Es ist eine Riesenarbe­it, so einen Comic zu erstellen, und dass dann auch noch die Qualität der Einsendung­en ständig gestiegen ist, freut mich wirklich ungemein.« Die Arbeiten der Preisträge­r*innen werden übrigens nicht nur ausgestell­t, sondern auch als Buch veröffentl­icht und bieten somit eine spannende Vorausscha­u auf das, was uns in der Berliner Comic-Szene in den nächsten Dekaden noch erwarten wird. Oder, um es mit den Worten der großen Erika Fuchs zusammenzu­fassen: Strahl, freu, grins!

Journalist

Weitere Infos unter: www.comicinvas­ion.de

 ?? ?? Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt: Keyvisual CIB2022
Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt: Keyvisual CIB2022

Newspapers in German

Newspapers from Germany