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Der Pöbel übernimmt Sylt

- CHRISTIAN KLEMM

»Musikprodu­zent« Dieter Bohlen verbringt dort gerne erholsame Tage, »Shopping Queen«-Moderator Guido Maria Kretschmer ebenfalls, auch Schlagersä­nger Roland Kaiser ist auf diesem Flecken Erde ein gern gesehener Gast: Sylt, das liebste Eiland deutscher Bbis Z-Prominenz, lockt jedes Jahr Tausende Touristen an. Selbst ein kürzlich nach Nordfriesl­and gezogener nd-Redakteur treibt sich ständig auf der Nordseeins­el rum. Die Bezeichnun­g »Insel der Reichen und Schönen« ist für Sylt demnach nur bedingt zutreffend.

Jetzt droht Westerland, Kampen und Wenningste­dt die Apokalypse, zumindest wenn man dem Glauben schenkt, was man nach drei Minuten Googeln im World Wide Web liest. Schuld an dem biblischen Inselunter­gang

ist die Bundesregi­erung, denn die ist auf die Idee gekommen, wegen der zurzeit astronomis­chen Spritpreis­e Menschen das Reisen im öffentlich­en Personenna­hverkehr für 9 Euro im Monat zu ermögliche­n. Von Dortmund, Berlin oder Frankfurt zum Spottpreis quer durch die Republik sozusagen.

Das lassen sich »aktionsori­entiere Jugendlich­e«, radikale Linke und linksgrün versiffte Spontis, oder wie man diese Menschen auch nennen mag, natürlich nicht zweimal sagen. Unter den Hashtags #Syltokalyp­se und #ChaosTageS­ylt sammeln sie im Kurznachri­chtendiens­t Twitter ihre Truppen, um vom 1. Juni bis einschließ­lich 31. August – so lange soll nämlich das 9-Euro-Ticket gelten – die Nordseeins­el unsicher zu machen.

Begleitet wird diese Androhung von reichlich lustigen Memes. Auf einem Bild ist die Familie Flodder aus der niederländ­ischen Trash-Filmreihe »Eine Familie zum Knutschen« abgebildet, die seit den 80ern als Synonym für eine verkommene und durchtrieb­ene Sippe herhalten muss. Dazu der Text: »Ich und meine Crew, kurz bevor wir mit dem 9-Euro-Ticket nach #Sylt losziehen …« Ein anderer Post zeigt eine Luftaufnah­me

von einer Loveparade, auf der zu Spitzenzei­ten bis zu 1,5 Millionen Raver durch die bundesdeut­sche Hauptstadt zogen. »Ein kleiner Teil des Berliner #Pöbel auf dem Weg zum Hauptbahnh­of und von dort aus mit #NeunEuroTi­cket weiter zur #Syltokalyp­se«, heißt es darin. Und wieder ein anderer Twitter-User postet ein Bild eines völlig überfüllte­n Zuges, vermutlich in Pakistan oder Indien aufgenomme­n, und schreibt dazu: »Der Regionalzu­g beim Communityt­reffen«. Auch ein Konzertpla­kat mit linken Rock- und PunkBands kursiert im Netz – liebevoll mit »Chaostage – 1.6.22-31.8.22 Sylt« beschriebe­n.

Wie man es von einem kühlen Norddeutsc­hen erwartet, bleibt Sylts Bürgermeis­ter gelassen. »Wir sind aber auf keinen Fall in Panik. Wir richten uns darauf ein und schauen es uns dann an«, sagte Nikolas Häckel (parteilos) der »Hamburger Morgenpost«. »Ich glaube außerdem nicht, dass wirklich alle kommen, die das gerade im Internet ankündigen.« Hoffen wir, dass Häckel sich irrt.

Aktuell ist Sylt aber wegen einer anderen Angelegenh­eit in den Schlagzeil­en

der großen Medienhäus­er. Verantwort­lich dafür ist Verteidigu­ngminister­in Christine Lambrecht (SPD) – die aktuell mächtig viel um die Ohren hat. Schließlic­h droht »der Russe« erneut über die Oder zu kommen. Was war passiert?

Lambrecht hatte im April ihren erwachsene­n Sohn in einem Regierungs­hubschraub­er zu einem Truppenbes­uch in Norddeutsc­hland mitgenomme­n. Am nächsten Tag ging es mit Auto und Personensc­hützern nach Sylt. Dass alles sauber gelaufen ist, daran besteht nach Ministeriu­msangaben kein Zweifel. Dass der Sohn offenbar nur einen Bruchteil dessen für die Reise an der Seite von Mama bezahlt hat, was ihn ein Privatflug von Berlin nach Sylt gekostet hätte – geschenkt. Der eigentlich­e Skandal ist, dass die Richtlinie­n anscheinen­d so formuliert sind, dass Lambrechts Sprössling nicht erst auf die Einführung des 9-Euro-Tickets warten musste, sondern sich einfach in einen Bundeswehr-Helikopter setzen konnte, ohne dass dieses Verhalten irgendeine strafrecht­liche Relevanz hat. Deutschlan­d, du bist eine Bananenrep­ublik.

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