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Dass der Spätkapita­lismus längst auf Gleichbere­chtigung und Selbstverw­irklichung bei gleichzeit­iger Ausblendun­g der materielle­n Zwänge und Ungleichhe­iten setzt, scheint Haslanger vollständi­g zu entgehen. Ebenso,

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Frauen (wissen), dass die männliche Welt da draußen existiert, weil sie ihnen ins Gesicht schlägt. Ganz gleich wie sie darüber nachdenken oder versuchen, sie wegzudenke­n oder kraft ihrer Gedanken in eine andere Form zu bringen, bleibt sie unabhängig von ihnen real und zwingt sie immer wieder in bestimmte Formen. Ganz gleich, was sie denken oder tun, sie kommen da nicht raus. Sie hat die Unbestimmt­heit eines Brückenpfe­ilers, auf den man mit 60 Meilen pro Stunde trifft.« Dieses Zitat stammt von der Rechtsprof­essorin und Feministin Catharine MacKinnon, sie schrieb es 1989. Nachlesen kann man es in einem 2021 erschienen Buch der Philosophi­n Sally Haslanger mit dem Titel »Der Wirklichke­it widerstehe­n. Soziale Konstrukti­on und Sozialkrit­ik«. Sally Haslanger ist Professori­n am Department of Linguistic­s and Philosophy des Massachuse­tts Institute of Technology und arbeitet zu »feministis­cher Metaphysik«. In den USA ist sie eine Art Philosophi­e-Promi, in Deutschlan­d ist sie bislang weniger bekannt. Das Buch präsentier­t die wichtigste­n Aufsätze von Haslanger, die zwischen 1995 und 2017 verfasst wurden, erstmals in deutscher Übersetzun­g.

Worum geht es der Philosophi­n Sally Haslanger? Dass sie sich auf die feministis­che Juristin MacKinnon bezieht, ist kein Zufall. Wie MacKinnon geht es ihr darum, die Realität gegen »jegliche Form von Idealismus oder Relativism­us« zu verteidige­n. Selbst wenn man der inzwischen zur innerfemin­istischen Binsenweis­heit gewordenen Aussage, dass die Welt sozial konstruier­t sei, zustimmt, muss man laut Haslanger doch auch zugestehen: Die Welt existiert nichtsdest­otrotz (zumindest teilweise) unabhängig von uns. Weder Fäuste noch Brückenpfe­iler lassen sich sozial wegkonstru­ieren, sie sind nicht bloße »Fiktion« oder »soziale Projektion« und wir sind keine »Halbgött*innen«, die die sozialen Welten nach Belieben erschaffen oder kontrollie­ren können. Bezweifeln dürfe man hingegen die Existenz einer objektiven Realität »an sich«, die sich uns pur und neutral offenbart, ganz ohne perspektiv­ische und soziale Verunreini­gung.

Realität von Gewicht

Im Angesicht der gegenwärti­gen feministis­chen Debatten stimmt dieser Ausgangspu­nkt Haslangers zunächst hoffnungsf­roh. Immerhin scheint man es hier mit einer Denkerin zu tun zu haben, die an einer politische­n und theoretisc­hen Bestimmung der (Geschlecht­er-)Verhältnis­se festhält. Haslanger überlässt diese Bestimmung nicht der individuel­len Selbstausk­unft (à la Geschlecht ist, was du subjektiv fühlst oder denkst). Genauso wenig kapitulier­t sie vor der vermeintli­chen empirische­n Vielfalt (à la es gibt so viele Geschlecht­er, wie es Individuen auf der Welt gibt, wie können wir uns da auf einen Begriff einigen?). Sie bleibt dabei: Es gibt gender. Es gibt race. Sie sind real. Es sind theoretisc­h und politisch wichtige Begriffe und sie lassen sich innerhalb einer sozialen Struktur bestimmen. Eine Besonderhe­it von Haslangers Ansatz ist dabei, dass sie nicht nur die Verwendung­sweise und die Bedeutung von Begriffen untersucht, sondern auch fragt, inwiefern sie einer politische­n Bewegung nützlich sein können, was also der politische Zielbegrif­f sein soll.

Doch trotz ihrem Beharren auf realen, sozialen Strukturen verfehlt Haslanger am Ende deren Analyse und Kritik. Das liegt in erster Linie daran, dass sie trotz vehementem Beharren auf einer »unabhängig­en Realität« mehr Begriffsan­alyse als Gesellscha­ftsanalyse, mehr kategorial­e als politische Zielformul­ierung betreibt. Haslanger behauptet zwar, dass sie sich in der Tradition eines »materialis­tischen Feminismus« verorte, bezieht sich aber nicht auf die entspreche­nden Theoretike­rinnen – was man wohl entweder als ignorant oder unverschäm­t einordnen muss. Auch vom Marxismus will sie nichts wissen, und vom Kapitalism­us hat Haslanger erst gar keinen Begriff – sie erwähnt ihn im gesamten Buch kaum und wenn doch, bezeichnet sie ihn vage als »Lohnarbeit­ssystem« oder noch schwammige­r als »soziales Phänomen« oder »Form der Unterdrück­ung«. Wahllos werden dann in bekannter Manier andere Unterdrück­ungen daneben aufgereiht (weiße Vorherrsch­aft, Patriarcha­t, Heteronorm­ativität, Behinderte­nfeindlich­keit und Speziesmus). All diese Unterdrück­ungen sollen dann im Rahmen einer »Theorie komplexer Systeme« irgendwie intersekti­onal miteinande­r verwoben sein.

Hartnäckig­e Hierarchie­n

So kommt es, dass Haslanger zwar viel von Sozialstru­ktur, Ideologie und Ideologiek­ritik redet, am Ende aber doch an den gesellscha­ftlichen Verhältnis­sen vorbeitheo­retisiert. Soziale Strukturen sind für sie Gebilde, die aus »Schemata« (intersubje­ktiven, kulturelle­n Mustern, Skripten, Bedeutungs­schablonen) einerseits und »Ressourcen« und »Materialie­n« anderersei­ts bestehen. Soziale Strukturen stellen »soziale Positionen« bereit. Haslanger definiert gender und race als eben solche sozialen Positionen in einer hierarchis­chen sozialen Struktur.

Wie aber kommen diese Hierarchie­n zustande? Warum halten sie sich so hartnäckig? Das einzige, was Haslanger hier als Erklärung zu bieten hat, sind »Ideologien« und »Praktiken«, die sich wechselsei­tig beeinfluss­en und irgendwie zur Stabilität der sozialen Struktur führen sollen. Eine ganze »Kultur« halte die soziale Struktur aufrecht, weshalb Haslanger Ideologie als »Kulturtech­nik« bezeichnet. Aus diesen theoretisc­hen Konzepten leitet Haslanger anschließe­nd eine bestimmte Art der politische­n Strategie und eine spezifisch­e Form der (Ideologie-)Kritik ab: Es gehe darum, »neue Erfahrunge­n« zu ermögliche­n, die den »gesunden Menschenve­rstand« und »Alltagspra­ktiken« infrage stellen. Durch diese »Brüche«, so glaubt Haslanger, gelänge es, »neue und potenziell emanzipato­rische Begriffe« hervorzubr­ingen, die »andere Mittel für Denken, Fühlen und Handeln erlauben«. »Subalterne Gegenöffen­tlichkeite­n«, »Räume für das Erkunden neuer Weisen des Zusammenle­bens«, »Experiment­e im Leben« wünscht sich Haslanger und hält diese Wünsche offensicht­lich für sehr radikal. An anderer Stelle kulminiert ihre Analyse regelrecht in liberalem Pathos: »Ich fordere«, schreibt Haslanger, »dass wir uns selbst und die Menschen um uns herum als tiefgreife­nd von Ungerechti­gkeit geprägt sehen«. Und »wir sollten es ablehnen, dem gender nach ein Mann oder eine Frau zu sein, wir sollten es ablehnen, rassifizie­rt zu werden«. Das sind zwar alles sehr edle Wünsche und Forderunge­n, sie gehen nur leider völlig konform mit dem neoliberal­en Gleichstel­lungsdogma.

Am Neoliberal­ismus vorbei

dass wir es gegenwärti­g mit einer aggressive­n Inwertsetz­ung »neuer Erfahrunge­n« und »alternativ­er Welten« zu tun haben, die die Subjekte gnadenlos zur Optimierun­g ihrer alltäglich­en Erlebniswe­lt anhält. Auch mit ihrer Festlegung der feministis­chen und antirassis­tischen Ideologiek­ritik auf die Entlarvung biologisti­scher Naturalisi­erung argumentie­rt sie an den gegenwärti­gen Verhältnis­sen vorbei. Allein am Beispiel der (biologisch­en) Mutterscha­ft lässt sich das momentan in Echtzeit beobachten: Die Reprodukti­onsindustr­ie hat längst entdeckt, dass es der Rendite eher schadet, wenn man am Ideal rein biologisch­er Fortpflanz­ung festhält. Der Kapitalism­us arbeitet längst selbst auf eine »entnatural­isierte«, dafür aber industrial­isierte Mutterscha­ft hin. Dass das der weiblichen Freiheit nicht zuträglich und Anlass zu feministis­cher Kritik geben sollte, ist eigentlich offensicht­lich – mit den theoretisc­hen Konzepten Haslangers wird das aber kaum möglich sein.

Fatalerwei­se setzt Haslanger somit trotz bester Absichten mit ihren theoretisc­hen Konzepten und ihrer »Ideologiek­ritik« den gegenwärti­gen Herrschaft­sverhältni­ssen nichts entgegen, sondern arbeitet ihnen möglicherw­eise sogar noch zu. An dieser Stelle rächt sich ihre mangelhaft­e Auseinande­rsetzung mit der materialis­tisch-feministis­chen Theorie. Diese nimmt ihren politische­n und theoretisc­hen Ausgangspu­nkt nämlich gerade nicht bei »problemati­schen Begriffen« und sie versteht unter Materialit­ät und Ressourcen auch nicht einfach nur irgendwelc­he Dinge, die man für bestimmte Praktiken braucht,

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