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Sie sprechen vom »weißen Denken«. Was verstehen Sie darunter?
Das weiße Denken ist eine politische Ideologie, die die Aufteilung der Menschheit in verschiedene Rassen begründet hat. Dabei hat sie die weiße Rasse als die überlegene Rasse gesetzt. Das weiße Denken wurde etabliert, um ein bestimmtes ökonomisches System zu stützen, das auf Ausbeutung beruht. Es ging um eine Legitimation ökonomischer Gewalt, oder anders gesagt: Das ökonomische System hat sich einen Diskurs gebaut, um seine Gewalt zu rechtfertigen.
Sie beschreiben auch, dass dieses weiße Denken von Weißen selbst als universell verstanden wird. Sie sprechen da von einem doppelten Selbstbetrug.
Einmal rief ich einen guten Freund von mir an, der weiß ist, und fragte ihn: »Wenn ich Schwarz bin, was bist dann du?« Und seine Antwort war: »Normal!« Das hat er gesagt, ohne nachzudenken, es kam aus dem Bauch. Dieser Mensch ist kein Rassist. Er ist ein guter Mensch, aber er weiß nicht genug über Rassismus und hat nicht genug darüber nachgedacht.
Trotzdem stellt sich die Frage, warum manche Menschen sich als Schwarz verstehen und andere als weiß. Um das zu verstehen, muss man in der Geschichte zurückgehen und die Rassifizierung der Menschheit nachzeichnen, die gleichzeitig eine Geschichte der Hierarchisierung ist. Der Selbstbetrug liegt einerseits darin, dass sich viele Weiße nicht eingestehen wollen, dass ihr Weißsein Vorteile hat. Sie denken sich als »normal«. Die andere Seite des Selbstbetruges ist, zu glauben, dass Rassismus ein Ausdruck einer persönlichen Einstellung ist. Das ist er nicht, er ist ein politisches System. Und um das zu erkennen, ist ein Blick in die Gesetzgebung, in die Geschichte hilfreich.
250 Jahre lang hatten wir in Frankreich eine strikt rassistische Gesetzgebung, die bis in die 1960er Jahre festgeschrieben war. Heute setzt sich dieses Erbe fort in rassistischen Praktiken wie dem Racial Profiling. Diese stehen zwar nicht mehr im Gesetz, aber sie werden akzeptiert, weil der Staat solche Praktiken nicht bestraft. Rassismus ist ein kulturelles Erbe des Westens, ebenso wie Homophobie und Sexismus.
Die Diskussion stört manche Weiße, weil sie daran erinnert werden, dass sie Vorteile und Privilegien genießen. Das geht so weit, dass es Menschen gibt, die guten Willens sind, aber nicht mit ihren eigenen rassistischen Verhaltensweisen umgehen können.
Im amerikanischen Diskurs nennt man das, was Sie beschreiben, »White Guilt«, weiße Schuld. Die wird gern verdrängt und aggressiv zurückgewiesen, weil man ja nicht verantwortlich ist für das, was früher Weiße Schwarzen angetan haben.
Einmal habe ich einer Freundin ein Buch über die Geschichte des Kolonialismus geliehen, und einige Zeit später gab sie mir es wieder, ohne es zu Ende gelesen zu haben. Es sei ihr zu furchtbar gewesen, hat sie gesagt, all die Gewalt und die Gräuel. Sie habe auch immerzu weinen müssen. Außerdem sei das ja gar nicht ihre Schuld, meinte sie. Das stimmt, aber das hat ja auch niemand behauptet.
Man muss sich aber bewusst machen, dass es da Geschichten zu erzählen gibt. Die Geschichte des Rassismus ist eine, die bisher vor allem aus einer weißen suprematistischen Perspektive erzählt wurde. Wenn wir über die Entdeckung Amerikas sprechen, dann fast immer aus der Sicht eines Christoph Kolumbus und nie aus der Sicht der Menschen am Strand. Ihre Stimme zählt nicht, dabei sind sie es, die viel erlitten haben.
Frankreich bezeichnet sich selbst als Land der Geschichte und auch als Land der Menschenrechte. Gleichzeitig scheint es da aber viele blinde Flecken zu geben, insbesondere was die Geschichte des Kolonialismus angeht.
Man erzählt sich in Frankreich eine Geschichte, die das Land aufwertet. Ich liebe Frankreich, aber während ich aufwuchs, bemerkte ich nach und nach: Das ist eine unerwiderte Liebe, weil die Geschichte, die sich Frankreich über sich selbst erzählt, mich nicht liebt. Ich komme darin nicht recht vor. Und die schlimmste Verachtung ist das Übersehenwerden, die Unsichtbarmachung.
Zum Beispiel feiert sich Frankreich dafür, das Land der Menschenrechte zu sein, vergisst aber, dass es gleichzeitig ein eigenes Rechtssystem für Schwarze gegeben hat, den Code noir, damit diese Schwarzen Menschen
sich eben nicht auf die Menschenrechte berufen können. Es gibt den Tag des nationalen Erbes; da wird dann auch gefeiert, dass Frankreich die Sklaverei abgeschafft hat. Aber es wird nicht darüber gesprochen, dass Frankreich versklavt hat, wer davon profitiert hat und welchen Kulturen Gewalt angetan wurde.
Das Wichtigste ist, die ökonomische Dimension zu verstehen, auch historisch. Wenn man diese Analyse unterlässt, muss man andere Gründe finden, um den Kolonialismus zu rechtfertigen, beispielsweise die französische Erzählung davon, dass man die Zivilisation in die Welt getragen habe. Das führt dann dazu, dass sich die koloniale Gewalt fortsetzt, wie zum Beispiel in dieser französischen Konstruktion der Françafrique, die die Kontrolle des Mutterlandes über die ehemaligen Kolonien sicherstellen sollte. Und das ist nur eine Art, wie der afrikanische Kontinent weiterhin ausgebeutet wurde und wird.
Gibt es eine Möglichkeit, diesen Kreislauf zu unterbrechen?
Das weiße Denken ist keine Frage der Hautfarbe. Es hat zu jeder Zeit Menschen in Europa gegeben, die Ungerechtigkeiten, Gewalt und Gräuel angeprangert haben. Das gilt auch heute: Wenn man in 100, 200 Jahren auf diese Zeit zurückblickt, wird man auch Menschen finden, die gegen die unmenschlichen Bedingungen in Flüchtlingslagern wie Moria protestiert haben.
Das weiße Denken hat aber die außergewöhnliche Fähigkeit, seine eigenen Erzählungen durchzusetzen. Und gleichzeitig glaubt es an seine eigenen Erzählungen. Es vergisst völlig, dass die Vielfältigkeit der Standpunkte das Interessanteste am Leben ist. Die Beherrschung der Welt bis in die 1960er Jahre hat den Westen das vergessen lassen; stattdessen hat er jetzt einen Überlegenheitskomplex.
In dieser Selbstüberhöhung setzt sich die Gewalt des Kolonialismus fort. Sie macht, dass Menschen im Mittelmeer ertrinken, weil man den Menschen hier erzählt, es gäbe einen Unterschied zwischen ihnen und denen – das seien Migranten, Menschen ohne Papiere und so weiter.
Sie waren Teil der Mannschaft, die 1998 die Fußball-Weltmeisterschaft gewann. Diese Mannschaft galt vielen als Inbegriff des neuen, modernen Frankreich, das, wie es der damalige Präsident Jacques Chirac ausdrückte, nicht nur blau-weiß-rot ist, sondern auch black-blanc-beur, also multikulturell und weltoffen. Das hat aber nicht lange vorgehalten; nach dem Streik der Spieler in Knysna bei der WM in Südafrika 2010 ist man in Frankreich wieder über die Schwarzen und muslimischen Spieler hergefallen.
Damit man dich akzeptiert, als Schwarze Person, als Muslim, musst du Außergewöhnliches leisten. Es reicht nicht einmal, in der Nationalmannschaft zu spielen, man muss schon die Weltmeisterschaft gewinnen. Sobald es einmal nicht läuft wie vorgesehen, wie 2010 in Knysna, bist du plötzlich Abschaum, der das Ansehen Frankreichs in der Welt beschmutzt. Das ist der Rassismus.
Und Knysna hat auch noch etwas Zweites gezeigt: Man kann reich sein, aber zuallererst bleibt man Schwarz oder Muslim. Und Schwarz zu sein oder Muslim, heißt, kontrolliert zu werden. Daran hat 1998 nichts geändert. Es gibt mehr Menschen, die sich aufrichtig gegen Rassismus engagieren, als früher, das schon. Aber grundsätzlich ist Frankreich immer noch ein rassistisches Land.
Die extreme Rechte hat in den letzten Jahren politisch immer mehr Einfluss gewonnen; Marine Le Pen hat bei der Präsidentschaftswahl immerhin knapp 42 Prozent erhalten. Erlebt Frankreich gerade einen rechtsextremen, rassistischen Backlash?
In Frankreich gibt es momentan starke rassistische Strömungen, die den Leuten eine Haltung verkaufen, die da lautet: Frankreich geht es schlecht, weil ihr übervorteilt werden sollt. Und die Leute, bei denen diese Überzeugung greift, die denken sich dann: Das ist unfair, ich will bevorteilt bleiben, ich will privilegiert sein.
Die Wahrheit ist: Sobald Menschen Privilegien haben, glauben sie nicht mehr an Gleichheit. An die Gleichheit glauben diskriminierte Menschen. Es sind diskriminierte Menschen, die die Gesellschaft zwingen, gerechter zu werden. Im Endeffekt geht es darum, Solidaritäten herzustellen, um ein ökonomisches System herauszufordern, das soziale Gewalt hervorbringt. Dieses System hetzt die Armen gegen die Armen auf, indem es dem armen Weißen sagt, ihr Problem seien die armen Einwanderer.
Ob es einen Backlash gibt, weiß ich nicht. Der Rassismus war schon immer da. Er zeigt sich jetzt deutlicher. Es ist aber nicht die Frage, wie stark der Rassismus in einer Gesellschaft ist. Es braucht nicht jene Menschen, die keine Rassist*innen sind, sondern solche, die Antirassist*innen sind. Und auch da hat sich etwas getan – von diesen Menschen gibt es inzwischen auch mehr.
Gleichzeitig ist Frankreich gerade in einer ökonomischen Krise, das verstärkt normalerweise rassistische Diskurse. Dazu muss man zwei Dinge sagen: Erstens gibt es auch die Verachtung der Armen in der französischen Gesellschaft, und das führt dazu, dass arme Menschen noch ärmere Menschen verachten. Gleichzeitig ist es aber so, dass der Rassismus keine Erzählung von armen Menschen ist. Die Gesetze, die Bilder, das ist nicht das Werk armer Menschen. In Frankreich ist der institutionelle Rassismus nicht anerkannt. Man tut so, als wäre Rassismus nur ein individueller Makel, aber nichts Kulturelles, nichts Institutionelles.*