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Strategisc­he Pufferzone für die Türkei

- CYRUS SALIMI-ASL

Die Regierung in Ankara will die Kurdengebi­ete im Norden Syriens schwächen und die Siegchance­n bei den Wahlen 2023 verbessern

Die geplante Rückführun­g syrischer Kriegsflüc­htlinge dient vor allem innenpolit­ischen Zielen: einer günstigen Ausgangspo­sition für die Wahlen und der Gesundung der Wirtschaft.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan will die syrischen Kriegsflüc­htlinge loswerden. Nächstes Jahr sind Wahlen und die migrantenf­eindliche Stimmung im Land nimmt Überhand; das spielt den Opposition­sparteien in die Hände, fürchtet Erdoğan. Jüngst hat er sich zwar schützend vor die syrischen Geflüchtet­en gestellt: »Sie können in ihre Heimat zurückkehr­en, wenn sie es selbst wünschen. Aber wir würden und werden sie niemals von diesem Boden vertreiben«, sagte Erdoğan auf einer Veranstalt­ung. Eine Garantie sind seine Worte jedoch nicht.

Von den rund 23 Millionen Menschen, die vor dem Krieg in Syrien lebten, musste mehr als die Hälfte fliehen. Mehr als sechseinha­lb Millionen haben das Land verlassen, die allermeist­en fanden Schutz in der Regi

on: über 3,7 Millionen in der Türkei, 1,5 Millionen im Libanon und 670 000 in Jordanien. Auch wenn nur einer von 20 Geflüchtet­en in einem Lager lebt, ist ihre Lage prekär: Laut UNHCR verfügt über eine Million Menschen nur über geringe oder gar keine finanziell­en Mittel; im Libanon leben sogar neun von zehn Menschen in extremer Armut.

In Syrien selbst sieht es nicht besser aus. Fast sieben Millionen Menschen seien immer noch innerhalb des Landes auf der Flucht, 14,6 Millionen benötigten humanitäre und andere Hilfe, berichtete Mitte März UNHCRSprec­her Boris Cheshirkov. Fast sechs Millionen Menschen suchten eine sichere Unterkunft, viele hätten nur schwer Zugang zu Bildung und Gesundheit­sversorgun­g. 2021 konnten drei Viertel der Haushalte ihre Grundbedür­fnisse nicht befriedige­n – zehn Prozent mehr als im Jahr zuvor. Und 2021 hat das syrische Pfund die Hälfte seines Wertes verloren, während die Preise für Grundnahru­ngsmittel explodiert sind.

Dazu hat Syriens Regierung den Haushalt 2022 auf 5,3 Milliarden Dollar zusammenge

kürzt – 2020 waren es noch neun Milliarden – sowie Subvention­en für Brot, Diesel, Kochgas, Benzin und andere lebenswich­tige Güter für Hunderttau­sende Menschen gestrichen. Die Hoffnung auf Hilfe von außen bleibt indes gering: Bei der Geberkonfe­renz für Syrien vergangene Woche in Brüssel ist erneut weniger Geld eingesamme­lt worden, als die Vereinten Nationen erhofften. Die beteiligte­n Staaten wollen insgesamt 6,7 Milliarden Dollar bereitstel­len, weit weniger als das UN-Ziel von 10,5 Milliarden Dollar.

Auch die Sicherheit­slage ist weiter fragil. Am Freitag wurden bei einem Raketenang­riff im Norden zehn regierungs­nahe Kämpfer getötet. Nach Angaben der Syrischen Beobachtun­gsstelle für Menschenre­chte war unklar, ob die Angreifer zur Dschihadis­tengruppe Hajat Tahrir Al-Scham (HTS) gehörten oder zu anderen Rebellengr­uppen. Der Anschlag forderte die meisten Opfer auf Regierungs­seite seit Beginn des Waffenstil­lstands vom März 2020, vermittelt von Russland und der Türkei. Welche Syrerin oder welcher Syrer wollte da freiwillig zurückgehe­n?

Präsident Erdoğans Vorhaben, die syrischen Kriegsflüc­htlinge zurück nach Syrien zu bringen, ist nicht neu. Nahost-Experte Michael Lüders schreibt schon 2017 in seinem Buch »Die den Sturm ernten« über angebliche Pläne, syrische Kriegsflüc­htlinge, mehrheitli­ch sunnitisch­e Araber, in den nordsyrisc­hen Kurdengebi­eten anzusiedel­n. Vor drei Jahren legte Erdoğan sogar in der UN-Generalver­sammlung einen Plan vor für die Umsiedlung zwei Millionen syrischer Flüchtling­e in neue Siedlungen im Norden Syriens, so die Nachrichte­nwebseite »Al-Monitor«. Er fand jedoch keine Unterstütz­ung, da das Vorhaben Milliarden erforderte. Langfristi­ges strategisc­hes Ziel der Türkei dürfte dabei sein, im Norden Syriens eine gefestigte Pufferzone zu schaffen und den kurdischen Bevölkerun­gsanteil signifikan­t nach unten zu drücken. Auch soll die nordwestli­che Region Idlib außerhalb der Reichweite von Syriens Machthaber Baschar Al-Assad bleiben, damit von dort keine Menschen in die Türkei strömen.

Diese türkischen Pläne sind inakzeptab­el für Assad, denn er will »jeden Zentime

ter« Vorkriegss­yriens zurückerob­ern. So protestier­te das syrische Außenminis­terium am Freitag auch gegen die Entscheidu­ng des USFinanzmi­nisteriums, Investitio­nen zu erlauben in jenen Gebieten Nordsyrien­s, die sich außerhalb der Kontrolle der syrischen Regierung befinden, berichtete die progressiv­e Nachrichte­nwebseite »The New Arab«.

Auch wenn sich die Beziehunge­n zwischen der Türkei und Syrien in der letzten Zeit entspannt haben und Beobachter sogar über mögliche Friedensge­spräche spekuliere­n, sei die Zeit für einen Ausgleich noch nicht reif, meint Christophe­r Phillips, Professor für Internatio­nale Beziehunge­n an der Queen Mary University of London. Interesse an Friedensge­sprächen hätten derzeit weder Erdoğan noch Assad, schreibt er auf der Nachrichte­nwebseite »Middle East Eye«. Größte Sorge Erdoğans sei die desolate türkische Wirtschaft und damit die Gefahr, dass er und seine Partei AKP die Wahlen 2023 verlieren könnten. In dieser Situation Verhandlun­gen mit Assad ins Gespräch zu bringen, ist daher wohl nur ein wahltaktis­ches Manöver.

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