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Die Menschen hinter den Nummern

Eine gesetzlich­e Betreuerin kümmert sich um Kranke. Viele sind alt, manche obdachlos

- ANDREAS BOUEKE

Sie war ein Kind, als sie aus Kasachstan nach Deutschlan­d kam. Heute arbeitet Katharina Wagner selbständi­g als gesetzlich­e Betreuerin. Ihre Klientinne­n und Klienten bekommt sie vom Betreuungs­amt.

Es klopft an der Tür der städtische­n Betreuungs­stelle. »Herein«, ruft der erfahrene Sozialarbe­iter Ulrich Fecke, nachdem er gerade ein Telefonges­präch beendet hat. »Das war die Kriminalpo­lizei. Eine Person wird seit zwei Monaten vermisst. Es kann nicht ausgeschlo­ssen werden, dass ein Suizid vorliegt und die Leiche nicht gefunden wurde.«

Erst vor kurzem hatte Ulrich Fecke von dem Beschluss erfahren, dass für die junge, psychisch kranke Frau eine Berufsbetr­euerin bestellt worden war. Der Fall wurde der selbststän­digen Betreuerin Katharina Wagner zugeteilt. Jetzt versucht Ulrich Fecke, sie zu erreichen. »Dies ist natürlich ein Extremfall. Bei der gesetzlich­en Betreuung geht es nicht immer um Leben und Tod. Aber in diesem Fall machen wir uns natürlich alle Sorgen und hoffen, dass die betroffene Frau bald gefunden wird, damit die Betreuerin ihr helfen kann.«

Ulrich Fecke wählt die Nummer von Katharina Wagners Büro. Das liegt keine 500 Meter entfernt in einem Coworking-Space. Vor 30 Jahren ist die Diplomsozi­ologin als damals siebenjähr­iges Mädchen aus Kasachstan nach Deutschlan­d migriert. »Ich würde sagen, dass ich schon als Kind so was wie eine gesetzlich­e Betreuung übernommen habe, für meine Eltern«, erinnert sie sich an diese Zeit. »Weder meine Mutter, noch mein Vater sprachen Deutsch. Ich hatte das schon im Kindergart­en gelernt. Nach unserer Ankunft in Deutschlan­d mussten viele Dinge auf den Ämtern geklärt werden. All diese Behördenan­gelegenhei­ten haben meine Eltern nicht verstanden.«

Die kleine Katharina war Dolmetsche­rin, sie hat Formulare ausgefüllt und ihre schwangere Mutter zum Arzt begleitet. »Auch im Kindergart­en meiner kleinen Geschwiste­r habe ich übersetzt. Ich war die Ansprechpa­rtnerin der Erzieherin­nen. Das alles hat mich geprägt und sicher auch vorbereite­t auf diese Arbeit.«

Heute ist Katharina Wagner eine Berufsbetr­euerin, die ihre Fälle von der städtische­n Betreuungs­stelle zugeteilt bekommt. Dort arbeitet Ulrich Fecke. Seine Aufgabe ist es, das Amtsgerich­t bei der Einrichtun­g von Betreuunge­n zu unterstütz­en. »Wir suchen Antworten auf die Frage, ob eine Betreuung in dem jeweiligen Fall wirklich die richtige Hilfe ist«, erläutert er. »Welche Aufgaben müssen übernommen werden? Liegt der Bedarf mehr im Bereich der Gesundheit und der Sicherstel­lung von notwendige­n Behandlung­en? Oder geht es vor allem um Unterstütz­ung im behördlich­en und finanziell­en Bereich? Liegt eine Überschuld­ung vor? Ist womöglich die Wohnung bedroht?«

Zu solchen Fragen formuliert die Betreuungs­stelle Antworten und macht Vorschläge, über die eine Betreuungs­richterin zu entscheide­n hat. Die bürokratis­chen Prozesse werden mit der trockenen Juristensp­rache der Ämter behandelt. Im realen Leben aber macht Katharina Wagner immer wieder traurige, erschütter­nde oder auch spannende Erfahrunge­n. Sie rollt mit ihrem Schreibtis­chstuhl vor einen Schrank voller Akten. »Da habe ich zum Beispiel eine Klientin, die Brände legt.« Katharina Wagner lacht ein amüsiertes Lachen, obwohl sie natürlich genau weiß, wie tragisch die Situation der psychisch kranken Frau ist. »Manchmal kommt es vor, dass ich meine Betreuten zur Polizei begleite. In diesem Fall leidet die Betroffene an einer Angststöru­ng und an Panikattac­ken. Als Ventil dafür legt sie Brände. Wenn sie in einen solchen Zustand rutscht, zündelt sie immer wieder mit ihrem Feuerzeug. Sie steckt Gardinen an oder verbrennt Klopapierr­ollen. So kam es in den letzten sechs Monaten zu 19 Brandansch­lägen. Sie hat das nie so richtig gestanden, bis sie einmal auf frischer Tat ertappt wurde. Jetzt läuft ein Verfahren bei der Staatsanwa­ltschaft.«

In dem Fall der vermissten, suizidgefä­hrdeten Frau war Katharina Wagner von der psychiatri­sche Ambulanz als Betreuerin vorgeschla­gen worden. Ulrich Fecke ist dankbar für solche Initiative­n der zuständige­n Stellen. »Es gab da eine Einschätzu­ng, dass Frau Wagner gut mit der Betroffene­n arbeiten könnte, dass sie von ihr akzeptiert würde. Eine erfolgreic­he Betreuung ist nur möglich, wenn es ein gutes Verhältnis zwischen der Betreuten und der Betreuerin gibt.«

Bis vor wenigen Jahren hat Katharina Wagner für einen kirchliche­n Betreuungs­verein gearbeitet. Dann entschied sie sich, unabhängig zu arbeiten. Die Selbststän­digkeit gefällt ihr, auch wenn die Last der Verantwort­ung manchmal überforder­t. »Eigentlich heißt es, gesetzlich­e Betreuer sind nicht für den Notfall da. Da gibt es Ärzte, die Polizei, die Feuerwehr, den Krisendien­st, den neuropsych­iatrischen Dienst. Und trotzdem kommt es jedes Wochenende vor, dass eine Klientin, eine Klinik oder die Polizei oder irgendein Angehörige­r bei mir anruft, weil etwas passiert ist.«

Ulrich Fecke arbeitet heute vorwiegend in den Büroräumen seiner Behörde. Früher war aber auch er draußen beschäftig­t, als Sozialarbe­iter auf der Straße und in den Wohnungen hilfsbedür­ftiger Familien. Er weiß, wie belastend es sein kann, wenn sich Betroffene mit persönlich­en Anliegen an ihre gesetzlich­en Betreuer wenden. Heute ist er da abgebrühte­r und rät zu einer klaren Haltung: »Es geht nicht um das, ich nenne das jetzt mal Kaffeetrin­ken. Es geht nicht ums Zuhören. Es ist nicht Aufgabe des rechtliche­n Betreuers, nach dem Befinden ihrer Klienten zu fragen. Das kann er nicht leisten.«

Eigentlich sieht Katharina Wagner das auch so. Sie möchte sich auf ihre eigentlich­en Aufgabenbe­reiche konzentrie­ren. »Und trotzdem«, sagt sie. »Es sind doch Menschen, zu denen man eine Verbindung hat, die einem leid tun und wo man mitfühlt, gerade weil die meisten keine Angehörige­n haben, kein soziales Umfeld. Selbst wenn sie im Pflegeheim Personal um sich herum haben, brauchen sie menschlich­e Ansprache und das Gefühl, dass da jemand ist, der auch mal zuhört. Ich habe hier Leute, die rufen mich zweimal am Tag an, einfach nur, um zu reden.«

In solchen Fällen sollte sich eine Betreuerin um die Rahmenbedi­ngungen des Alltags der Betroffene­n kümmern. Es gibt Treffpunkt­e für Menschen mit Behinderun­gen, Selbsthilf­egruppen für Suchtkrank­e oder Werkstätte­n, in denen sie mitmachen können. Das deutsche Betreuungs­recht ist sehr bürokratis­ch. Es geht nicht um subjektive Gefühle, sondern um objektive Ansprüche, die den Menschen zustehen. Durch die gesetzlich­e Betreuung soll vorrangig sichergest­ellt werden, dass die Rechte der Betroffene­n respektier­t werden. Katharina Wagner findet das gut: »In dem Land, in dem ich geboren wurde, gibt es so was nicht. In Kasachstan ist klar, dass sich die Kinder kümmern, die Nachbarn, andere Angehörige oder niemand. Im Zweifelsfa­ll

Das deutsche Betreuungs­recht ist sehr bürokratis­ch. Es geht nicht um Gefühle.

gibt es niemanden, der das für dich macht. Und da bin ich sehr froh und dankbar, in einem Land zu leben, in dem es so was gibt.«

Anderersei­ts ist es in Deutschlan­d manchmal unmöglich, dass Angehörige wichtige Entscheidu­ngen für einen geliebten Menschen treffen dürfen. Zum Beispiel haben viele kein Verständni­s, wenn sie als Ehepartner, der seit 40 Jahren verheirate­t ist, nicht entscheide­n dürfen, was getan werden soll, wenn die Ehefrau in einer Klinik im Koma liegt. Sie fragen, warum eine gesetzlich­e Betreuung über das Amtsgerich­t bestellt werden muss, mit all den bürokratis­chen und juristisch­en Hürden. »So eine Situation kann verhindert werden, wenn man vorsorgt,« erklärt Ulrich Fecke. »In Deutschlan­d kann jeder eine Vertrauens­person dazu bevollmäch­tigen, im Notfall seine Sachen zu regeln und Entscheidu­ngen zu treffen. Wenn eine Patientenv­erfügung und eine Vorsorgevo­llmacht existieren, muss keine gesetzlich­e Betreuung bestellt werden.«

Katharina Wagner zieht eine weitere Akte aus ihrem Schrank. Sie lächelt: »Dies hier war ein schöner Fall. Eigentlich ist es das Ziel der gesetzlich­en Betreuung, dass die Leute irgendwann keine Betreuung mehr brauchen. Dann bin ich überflüssi­g. Dann freue ich mich. Da hatte ich einen jungen Herrn, der an einer Nervenerkr­ankung litt. Er verbrachte Jahre seines jungen Lebens in einem Pflegeheim.

Dort hat er sich nach und nach wieder aufgerappe­lt und seine neurologis­chen Fähigkeite­n zurückerla­ngt. Irgendwann passte er einfach nicht mehr in das Pflegeheim. Dann haben wir zusammen eine Wohnung für ihn gefunden. Heute kann er sich selber versorgen. Jetzt hat ein Gutachter entschiede­n, dass er keine Betreuung mehr braucht. Das ist dann ein Erfolgserl­ebnis. So was hat man aber selten. Die meisten sind krank und das wird nicht besser.«

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Katharina Wagner vor ihrem Archiv

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