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Hallo Mutter, bitte helfen

Keine Überraschu­ng: Das Kalush Orchestra aus der Ukraine hat den Eurovision Song Contest in Turin gewonnen

- JENS BUCHHOLZ

Am Ende hat das Kalush Orchestra aus der Ukraine mit seinem Titel »Stefania« den 66. European Song Contest (ESC) in Turin gewonnen. Der Titel ist eine gelungene Mischung aus ukrainisch­er Folklore, Rap und Electro. Nach der Punkteverg­abe der Jurys lag noch der Brite Sam Ryder vorn. Erst das Votum des Fernsehpub­likums katapultie­rte den ukrainisch­en Titel uneinholba­r an die Spitze der Wertung. Die Wettanbiet­er hatten es bereits mit 60-prozentige­r Sicherheit prophezeit.

Unter ESC-Fans und Experten war das nicht unumstritt­en. Denn das Reglement des Ausrichter­s European Broadcast Union (EBU) schreibt vor, dass die Beiträge keine politische­n Inhalte transporti­eren dürfen. Im letzten Jahr wurde deshalb der Beitrag aus Belarus ausgeschlo­ssen. Der Song verhöhnte die belarussis­che Widerstand­sbewegung gegen Präsident Lukaschenk­o. In diesem Jahr durfte Russland wegen des Angriffskr­ieges auf die Ukraine nicht teilnehmen.

»The Sound of Beauty« war das Motto, das Spektakel entspreche­nd gigantisch. Die Live-Regie dagegen gigantisch schlecht. Sam Ryders hervorrage­nder Song »Space Man« lehnt sich eng an Queen, Elton John und vor allem David Bowie an. ESC-Titel sind ja oft Klone aktueller Trends, aber in diesem Jahr gab es erstaunlic­h häufig Songs mit einem eigenen kreativen Profil. Allen voran die serbische Rapperin Konstrakta, die mit ihrer an Marina Abramović angelehnte­n Performanc­e zu ihrem Song »In Corpore Sano« überrasche­nd auf Platz 5 gelandet ist.

Die komplette Veranstalt­ung stand im Zeichen des Krieges gegen die Ukraine. Eröffnet mit einer bombastisc­hen Version von John Lennons Song »Give Peace a Chance«

Auf Platz 3 lieferte die Spanierin Chanel mit ihrem Titel »SloMo« dagegen typische ESC-Klonware. Ebenso wie die Schwedin Cornelia Jakobs, die mit »Hold me closer« auf Platz 4 den Celine-Dion-Ehrenpreis verdient hätte, wenn es ihn gäbe. Die als Wölfe verkleidet­en Norweger Subwoolfer lieferten mit »Give that Wolf a Banana« den erwartbare­n, aber sympathisc­hen ESC-Trash und erreichten damit Platz 10. Insgesamt gab es wenig Over-the-Top-Choreograf­ie und dafür viele Tränen-Drüsen-Power-Balladen. Lobend erwähnen in diesem Zusammenha­ng muss man die niederländ­ische Sängerin S10 mit ihrem unglaublic­hen Ohrwurm »De Diepte«. Öde wie immer war die Punktverga­be. Manchmal wusste man nicht, ob die Moderator*innen eine spannungsa­ufbauende Kunstpause machten oder ob sie eingeschla­fen waren und deshalb nicht mit den Punkten herausrück­ten.

Der Sieger-Song des Kalush Orchestra ist offiziell der Mutter des Band-Sängers Oleh Psjuk gewidmet. Allerdings enthält er viele Metaphern, die man auch als Bericht über ein Land im Krieg deuten kann. Vor allem, wenn man weiß, dass in Osteuropa die Heimat als »Mutter« bezeichnet wird. »Helft der Ukraine, Mariupol und den Menschen im Asow-Stahlwerk«, rief Psjuk nach seinem Auftritt dem Publikum zu. Damit verstieß er gegen die Regeln. Die Veranstalt­er reagierten mit Nachsicht.

Die komplette Veranstalt­ung stand im Zeichen des Krieges gegen die Ukraine. Eröffnet wurde die Fernsehübe­rtragung mit einer bombastisc­hen Version von John Lennons Song »Give Peace a Chance«. Moderatori­n Laura Pausini rief den Zuschauer*innen zu: »Everybody wants peace!« In fast allen Ländern wurde in der Publikumsa­bstimmung die Höchstpunk­tzahl an den ukrainisch­en Beitrag vergeben. Ein Votum, mit dem sich die mehr als 200 Millionen Fernsehzus­chauer*innen mit der Ukraine solidarisc­h erklärten. Die Pop-Uno hat damit ihre Antikriegs­resolution beschlosse­n. »Dieser Sieg«, erklärte der bewährte deutsche ESC-Kommentato­r Peter Urban, »ist ein Sieg der Ukraine.« Der ESC wird im nächsten Jahr also in der Ukraine stattfinde­n und mit Sicherheit ein Politikum werden.

Das Musikgewer­be ist immer dann besonders politisch, wenn es das ausdrückli­ch nicht sein will. Schon in den 60er Jahren gab es beim ESC Proteste gegen den spanischen Diktator Franco. Nicole sang 1982 verklausul­iert gegen die atomare Hochrüstun­g in Europa an. Aber auch gesellscha­ftspolitis­ch war der ESC bedeutsam, weil er sich auch für queere Personen öffnete. 1998 gewann mit der israelisch­en Sängerin Dana Internatio­nal erstmals eine Transperso­n. Und auch in diesem

Jahr wurde beim ESC wieder viel mit Männlichke­itsund Weiblichke­itsbildern gespielt.

Den Eurovision Song Contest gibt es seit 1956. Die teilnehmen­den Länder müssen Mitglied der European Broadcast Union (EBU) sein. Neben den meisten europäisch­en Ländern gehören dazu auch Australien und zahlreiche nordafrika­nische und kleinasiat­ische Länder. Zweimal gewannen bisher deutsche Beiträge: 1982 die Sängerin Nicole. 2010 holte die charismati­sche Lena mit dem Song »Satellite“den Sieg. Seither sah es mittelmäßi­g bis düster aus. Auch diesmal landete der Sänger Malik Harris mit seinem schönen Song »Rockstars« auf dem letzten Platz.

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Es war fast klar, dass sie gewinnen: Das Kalush Orchestra aus der Ukraine posiert nach dem Sieg beim ESC 2022.

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