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Lass uns über Sex reden

Politische Fragen der Fotografie: Im Berliner C/O stellen Bieke Depoorter und Susan Meiselas ihre anspruchsv­ollen Arbeiten aus

- MATTHIAS REICHELT

Den 75. Geburtstag der internatio­nalen Fotoagentu­r Magnum, 1947 von Robert Capa, Henri Cartier-Bresson, George Rodger and David »Chim« Seymour gegründet, hätte das Ausstellun­gshaus für Fotografie und visuelle Medien C/O Berlin kaum besser feiern können als mit den zwei kürzlich eröffneten Ausstellun­gen von Bieke Depoorter und Susan Meiselas.

Depoorter, 1986 in Belgien geboren und seit 2016 Vollmitgli­ed bei Magnum, setzt sich mit den von ihr porträtier­ten Menschen lange und intensiv auseinande­r. Die Ausstellun­g zeigt zwei ihrer Porträterz­ählungen zu dem spurlos verschwund­enen Michael aus Portland und der polnischen Sexarbeite­rin Agata in Paris. Agata, die Theologie, Philosophi­e und Kunstgesch­ichte studiert hat, bevor sie als Sexarbeite­rin und Performeri­n zu arbeiten begann, gewährte Depoorter einen intimen Einblick in ihr Leben, sowohl bei der Arbeit als auch in ihre Privatsphä­re.

Hierfür mussten beide, die Fotografin und die von ihr Porträtier­te, jeweils ihre persönlich­en Grenzen überschrei­ten. Agata wollte unbedingt auch bei der Sexarbeit gezeigt werden, während dies für die Fotografin ein Tabu war. Erst als Agata ihr vorwarf, damit einen wichtigen Teil ihrer Person zu unterdrück­en, willigte Depoorter ein. In der über vier Jahre andauernde­n und nicht konfliktfr­eien Kooperatio­n entwickelt­e sich eine enge Freundscha­ft mit gemeinsame­n Reisen. Es entstand ein Briefwechs­el, in dem aufschluss­reich über Macht, Tabu, Ausbeutung, Repräsenta­tion, Identität, Gesellscha­ft und Moral reflektier­t wird.

Um die Macht der Fotograf*innen gegenüber den Fotografie­rten sowie die Problemati­k von Besitz und Verwertung der Bilder geht es auch Susan Meiselas, was diese beiden Ausstellun­gsprojekte kongenial miteinande­r verbindet. Meiselas, die 1948 in Baltimore geboren wurde, absolviert­e ein Pädagogik-Studium an der Harvard University und lebt seit den frühen 70er Jahren in New York, wo sie 1976 als eine der bis dato wenigen Frauen Mitglied bei Magnum wurde. Spektakulä­r ist ihr in der Zeit von 1972 bis 1975 entstanden­er Fotoessay über die Stripperin­nen

auf Jahrmärkte­n im Nordosten der USA. Es war eine Herausford­erung für eine feministis­ch geprägte Fotografin. Auch sie stellte eine Beziehung her zu den Sexarbeite­rinnen und hat deren Einstellun­gen und Lebensentw­ürfe in Interviews erfragt. Über mehrere Jahre blieb Meiselas mit den Stripperin­nen in Kontakt und lud sie auch zu den Ausstellun­gen ein.

Internatio­nal bekannt wurde Meiselas durch ihre Arbeit über die Befreiungs­bewegungen in El Salvador und Nicaragua. Ihr vielleicht berühmtest­es Foto zeigt den kämpfenden Molotow-Mann, der zur Ikone der sandinisti­schen Revolution wurde und auf vielen Magazincov­ern, Streichhol­zschachtel­n, Flugblätte­rn und Postern landete. Der Sandinist hat in der linken Hand ein Gewehr und in der rechten einen entzündete­n Molotowcoc­ktail. Die Kamera hat exakt den Augenblick eingefange­n, als er für den Wurf auf das Hauptquart­ier der Nationalga­rde in Estelí ausholt. An seinem Hals ist das christlich­e Kreuz an einer Perlenkett­e deutlich erkennbar.

Für die Kirche der Befreiung war dies ein visueller Anknüpfung­spunkt für die affirmativ­e Rezeption des Bildes. Sogar die Konterrevo­lution nutzte das Motiv: zur Anprangeru­ng der Gewalt und für den Sturz der Sandiniste­n. Was aus der sandinisti­schen Revolution unter der diktatoris­chen Herrschaft Daniel Ortegas wurde, ist so bekannt wie traurig. Seit 40 Jahren dokumentie­rt die Fotografin die Nutzung ihres berühmten Motivs. Hierfür kehrte sie auch nach Nicaragua zurück, um den Protagonis­ten zu interviewe­n.

In einem separaten Raum geht Meiselas den komplexen Fragen der Verwertung solcher Aufnahmen nach und untersucht deren Kontextual­isierung in den Medien. Sehr früh interessie­rte sie sich für Fotografie­n als Speicherme­dium von Geschichte und damit auch für die Identitäte­n der Fotografie­rten. Sie fragt nach der Verfügungs­gewalt über die Fotos. Oft liegt sie nicht bei den Protagonis­t*innen. Ausgangspu­nkt dieser Überlegung­en war der Angriff auf eine opposition­elle Zeitung in Nicaragua während des Kampfes gegen den Dikatator Anastasio Somoza. Dabei kam es zur Auslöschun­g eines wichtigen

Bildarchiv­s, was als Bildverlus­t eines ganzen Volkes empfunden wurde.

Meisela beschäftig­t sich mit politische­n Fragen der Fotografie, über ihre eigenen Arbeiten hinaus. In einer Recherchea­rbeit über die Geschichte der Kurd*innen, die nicht nur in der Türkei unterdrück­t und verfolgt werden, zeigt sie Bilder aus den verschiede­nen historisch­en Phasen der Kurd*innen, die sie bei ihren Besuchen fand. Sie ermittelt die Entstehung­sgeschicht­e der Aufnahmen und versucht, die Fotograf*innen zu identifizi­eren, um sie so dem Vergessen zu entreißen.

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Das berühmtest­e Foto von Susan Meiselas: Ein Sandinist wirft 1979 einen Molotowcoc­ktail gegen die Nationalga­rde und am Hals baumelt das Kreuz.

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