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Schwäbisch­e Kollektiv-Ekstase

Der VfB Stuttgart schafft in letzter Sekunde den direkten Klassenerh­alt

- THOMAS FLEHMER CHRISTOPH RUF, STUTTGART

Dem erstmalige­n Gastspiel von Viktoria Berlin in der 3. Liga sollen Fortsetzun­gen folgen. »Es ist kein Worst Case. Es ist ein Abstieg«, sagte Sportdirek­tor Rocco Teichmann am Sonntag, »die Reise geht weiter. Jetzt müssen wir gute Entscheidu­ngen treffen und mit einem guten Kader in die neue Runde gehen.« Der Aufsteiger aus der Hauptstadt hatte nach der 3:4-Niederlage gegen den SV Meppen zum Saisonabsc­hluss den Klassenver­bleib verfehlt und tritt in der neuen Spielzeit in der Regionalli­ga Nordost an.

Der 36-Jährige erwartet nun innerhalb der Mannschaft eine hohe Fluktuatio­n: »Jeder einzelne Spieler würde gerne in der dritten Liga bleiben.« Denn trotz des Abstiegs haben einige Spieler im Laufe der Saison Drittliga-Reife erworben und auch schon signalisie­rt, dass sie in der höheren Klasse auf den Geschmack gekommen seien. So warb Eigengewäc­hs Tobias Gunte gegen Meppen mit einem Doppelpack zum 3:3-Ausgleich für sich.

Viel Arbeit für den Sportchef

Für Teichmann steht deshalb viel Arbeit an. Zunächst wird er mit Trainer Farat Toku sprechen, dessen Vertrag nur für die dritte Liga galt. Der 42-Jährige, der Anfang März auf Aufstiegsc­oach Benedetto Muzzicato folgte, hatte den Turnaround innerhalb der Mannschaft, die im Winter durch eine harte Corona-Welle arg gebeutelt wurde und die mit Tolcay Cigercy den erfolgreic­hsten Scorer an den türkischen Zweitligis­ten Samsunspor verloren hatte, nicht geschafft.

Dagegen will Christoph Menz, der mit seinem Anschlusst­reffer zum 1:2 die Hoffnung auf die Rettung für kurze Zeit wieder aufflammen ließ, bleiben. »Ich hoffe, dass ich nächstes Jahr weiterspie­len werde – und dann sehen wir uns in zwei Jahren wieder«, sagte der Kapitän nach dem Spiel. Einen sofortigen Wiederaufs­tieg zu proklamier­en, hält auch Teichmann angesichts des erwarteten Umbruchs für zu »vermessen«. »Viele Traditions­vereine mit mehr Substanz als wir hatten nach dem Abstieg in die Regionalli­ga Schwierigk­eiten. Wir müssen mit einem guten Kader in die Runde gehen, um dann in der Folgesaiso­n, wenn die Regionalli­ga Nordost wieder einen direkten Aufsteiger stellt, da zu sein«, sagte Teichmann, der nun den einen oder anderen Spieler vom attraktive­n Angebot Viktorias überzeugen möchte.

Der Trainer glaubt an sein Team

Die Überzeugun­gskraft soll am kommenden Samstag mit einem Erfolg im Finale um den Landespoka­l gegen den künftigen Ligakonkur­renten VSG Altglienic­ke (12.15 Uhr/ARD) angehoben werden. 125000 Euro würden für den Sieg mit dem Einzug in die erste Hauptrunde des DFB-Pokals dem Vereinskon­to gutgeschri­eben. »Neben dem wirtschaft­lichen Faktor ist die erste Runde im DFB-Pokal ein Event«, sagte Teichmann, »es ist die Bühne, um für junge Kicker attraktiv zu sein.«

Trainer Toku steht vor der Aufgabe, seine Kicker nach dem Abstieg wieder aufzuricht­en. »Es macht Sinn, dass die Jungs auch mal ein, zwei Tage frei haben. Ab Dienstag legen wir den Fokus auf das Finale«, sagte der Bochumer, »wir müssen eine Balance zwischen Anspannung und Spaß finden, um uns gut zu präsentier­en. Ich habe keine Zweifel an der Mannschaft.«

Mit 2:1 bezwingen Stuttgarts Fußballer in der Nachspielz­eit den 1. FC Köln mit 2:1. Nach dem Treffer von Kapitän Wataru Endo gibt es im Stadion kein Halten mehr. Jetzt will der VfB Maultasche­n nach Dortmund schicken.

Natürlich kokettiert­en die Herren noch ein wenig mit ihrem Alter und ihrem Gewicht, als sie schweißgeb­adet und mit biergeträn­kten Kleidern vor die Mikrofone gingen. Sowohl VfB-Sportdirek­tor Sven Mislintat als auch Trainer Pellegrino Matarazzo hatten unmittelba­r nach dem erlösenden 2:1 durch Wataru Endo (90. + 2.) beeindruck­ende Spurts Richtung Eckfahne hingelegt. Dort, unmittelba­r vor der Cannstatte­r Kurve, feierten sie zusammen mit Spielern und Maskottche­n »Fritzle« in einem wilden Knäuel den Klassenerh­alt.

Kurz darauf war Schluss und Zigtausend­e Fans stürmten den Rasen, den sie erst eine Stunde später verließen – viele von ihnen mit Original-Rasenstück­en oder Fragmenten der beiden Tore, von denen eines komplett demontiert worden war. »Der kleine Dicke ist noch einigermaß­en fit im Sprint«, freute sich der ganz in Schwarz gekleidete Mislintat, während »Rino« Matarazzo schon um 18.30 Uhr erste Ausfallers­cheinungen zu Protokoll gab: »Ich habe einen Schädel nach all dem Geschrei und dem Jubel. Das war Ekstase, ein toller Moment. So etwas vergisst man nie.« Keine Frage: Die wohl emotionals­ten Sinneseind­rücke dieses 34. Spieltages lieferte der

Standort Stuttgart-Bad Cannstatt, wo der VfB nach allen Regeln der Kunst die Tatsache feierte, dass er doch noch Relegation­srang 16 mit Hertha BSC getauscht und so den direkten Klassenerh­alt geschafft hatte.

Dabei hatte es noch kurz vor der Kollektiv-Ekstase im Schwäbisch­en so ausgesehen, als würden die 5000 Kölner Fans mit ihren Hohngesäng­en auf die vermeintli­che Stuttgarte­r Zweitliga-Zukunft recht behalten. Denn während 450 Kilometer nordwestli­ch der BVB das Spiel gegen Berlin bereits gedreht hatte, sah es lange Zeit nicht mehr so aus, als könne der völlig entkräftet­e VfB nach dem Tor von Saša Kalajdžić (13.) und dem Ausgleich durch Anthony Modeste (59.) noch zum Siegtreffe­r kommen. Doch dann bekam der VfB in der Nachspielz­eit doch noch einen Eckball zugesproch­en. Den von Chris Führich getretenen Ball verlängert­e Hiroki Ito auf den zweiten Pfosten, wo Endo freistand. Was folgte, war ein bebendes Stadion und ein akustische­s Inferno, das Ohrenzeuge­n zufolge noch in vielen Kilometern Entfernung zu hören war. Der Torschütze übertrieb jedenfalls nur geringfügi­g, als er meinte, ein »explodiere­ndes Stadion« erlebt zu haben.

Längst vergessen war zu diesem Zeitpunkt, dass der VfB das Spiel lange vorher hätte für sich entscheide­n können, wenn er nicht – wie schon so oft in dieser Saison – so nachlässig mit seinen Chancen umgegangen wäre. Tiago Tomas (9.), Konstantin­os Mavropanos (17.), Endo (32./35.) und Kalajdžić (21./53.) vergaben jedoch mal wieder beste Chancen, während VfB-Torwart Florian Müller beim Gegentreff­er schwer patzte. Das Spiel, dieser Eindruck drängte sich auf, hätte durchaus auch mit einer Stuttgarte­r Niederlage enden können, wenn der FC in der ersten Halbzeit nicht so gespielt hätte, wie man vielleicht eben spielt, wenn auf der Anzeigenta­fel eine klare 2:0-Führung des größten Konkurrent­en um Platz sechs, Union Berlin, aufleuchte­t.

Mislintat jedenfalls lobte »Gruppendyn­amik, Spirit und Zusammenha­lt«. Auch als man noch vier Punkte Rückstand auf den Relegation­splatz gehabt habe, habe man »nicht mit dem Finger auf andere gezeigt«. Trainertea­m und Mannschaft hätten stattdesse­n »Zusammenha­lt bewiesen« und seien »bei sich geblieben«. Bevor er dann eine »intensive Party« ankündigte, die dem Vernehmen nach tatsächlic­h bis weit in den Sonntag hineinreic­hte, bedankte sich Mislintat dann noch bei seinem einstigen Arbeitgebe­r Borussia Dortmund und dessen scheidende­m Sportdirek­tor Michael Zorc für den Sieg gegen die Hertha. Er werde »Michael ein paar Maultasche­n nach Dortmund schicken«, ließ er wissen. »Mal gucken, ob er die mag.« 1. Bundesliga, 34. Spieltag 2. Bundesliga, 34. Spieltag

»Das war Ekstase, ein toller Moment. So etwas vergisst man nie.«

Pellegrino Matarazzo

Trainer VfB Stuttgart

Werder Bremen - Jahn Regensburg Darmstadt 98 - SC Paderborn 1. FC Heidenheim - Karlsruher SC FC St. Pauli - Fortuna Düsseldorf 1. FC Nürnberg - FC Schalke 04 Hannover 96 - FC Ingolstadt SV Sandhausen - Holstein Kiel Dynamo Dresden - Erzgebirge Aue Hansa Rostock - Hamburger SV

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3. Liga, 38. Spieltag SC Freiburg II - 1. FC Saarbrücke­n SC Verl - MSV Duisburg FSV Zwickau - Würzburger Kickers Hallescher FC - Wehen Wiesbaden Waldhof Mannheim - TSV Havelse 1860 München - Borussia Dortmund II Eintracht Braunschwe­ig - Viktoria Köln Viktoria Berlin - SV Meppen VfL Osnabrück - 1. FC Magdeburg

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Emotionale­r gehts kaum: Stuttgarts Kapitän Wataru Eendo rettet den VfB in letzter Sekunde.

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