Schwäbische Kollektiv-Ekstase
Der VfB Stuttgart schafft in letzter Sekunde den direkten Klassenerhalt
Dem erstmaligen Gastspiel von Viktoria Berlin in der 3. Liga sollen Fortsetzungen folgen. »Es ist kein Worst Case. Es ist ein Abstieg«, sagte Sportdirektor Rocco Teichmann am Sonntag, »die Reise geht weiter. Jetzt müssen wir gute Entscheidungen treffen und mit einem guten Kader in die neue Runde gehen.« Der Aufsteiger aus der Hauptstadt hatte nach der 3:4-Niederlage gegen den SV Meppen zum Saisonabschluss den Klassenverbleib verfehlt und tritt in der neuen Spielzeit in der Regionalliga Nordost an.
Der 36-Jährige erwartet nun innerhalb der Mannschaft eine hohe Fluktuation: »Jeder einzelne Spieler würde gerne in der dritten Liga bleiben.« Denn trotz des Abstiegs haben einige Spieler im Laufe der Saison Drittliga-Reife erworben und auch schon signalisiert, dass sie in der höheren Klasse auf den Geschmack gekommen seien. So warb Eigengewächs Tobias Gunte gegen Meppen mit einem Doppelpack zum 3:3-Ausgleich für sich.
Viel Arbeit für den Sportchef
Für Teichmann steht deshalb viel Arbeit an. Zunächst wird er mit Trainer Farat Toku sprechen, dessen Vertrag nur für die dritte Liga galt. Der 42-Jährige, der Anfang März auf Aufstiegscoach Benedetto Muzzicato folgte, hatte den Turnaround innerhalb der Mannschaft, die im Winter durch eine harte Corona-Welle arg gebeutelt wurde und die mit Tolcay Cigercy den erfolgreichsten Scorer an den türkischen Zweitligisten Samsunspor verloren hatte, nicht geschafft.
Dagegen will Christoph Menz, der mit seinem Anschlusstreffer zum 1:2 die Hoffnung auf die Rettung für kurze Zeit wieder aufflammen ließ, bleiben. »Ich hoffe, dass ich nächstes Jahr weiterspielen werde – und dann sehen wir uns in zwei Jahren wieder«, sagte der Kapitän nach dem Spiel. Einen sofortigen Wiederaufstieg zu proklamieren, hält auch Teichmann angesichts des erwarteten Umbruchs für zu »vermessen«. »Viele Traditionsvereine mit mehr Substanz als wir hatten nach dem Abstieg in die Regionalliga Schwierigkeiten. Wir müssen mit einem guten Kader in die Runde gehen, um dann in der Folgesaison, wenn die Regionalliga Nordost wieder einen direkten Aufsteiger stellt, da zu sein«, sagte Teichmann, der nun den einen oder anderen Spieler vom attraktiven Angebot Viktorias überzeugen möchte.
Der Trainer glaubt an sein Team
Die Überzeugungskraft soll am kommenden Samstag mit einem Erfolg im Finale um den Landespokal gegen den künftigen Ligakonkurrenten VSG Altglienicke (12.15 Uhr/ARD) angehoben werden. 125000 Euro würden für den Sieg mit dem Einzug in die erste Hauptrunde des DFB-Pokals dem Vereinskonto gutgeschrieben. »Neben dem wirtschaftlichen Faktor ist die erste Runde im DFB-Pokal ein Event«, sagte Teichmann, »es ist die Bühne, um für junge Kicker attraktiv zu sein.«
Trainer Toku steht vor der Aufgabe, seine Kicker nach dem Abstieg wieder aufzurichten. »Es macht Sinn, dass die Jungs auch mal ein, zwei Tage frei haben. Ab Dienstag legen wir den Fokus auf das Finale«, sagte der Bochumer, »wir müssen eine Balance zwischen Anspannung und Spaß finden, um uns gut zu präsentieren. Ich habe keine Zweifel an der Mannschaft.«
Mit 2:1 bezwingen Stuttgarts Fußballer in der Nachspielzeit den 1. FC Köln mit 2:1. Nach dem Treffer von Kapitän Wataru Endo gibt es im Stadion kein Halten mehr. Jetzt will der VfB Maultaschen nach Dortmund schicken.
Natürlich kokettierten die Herren noch ein wenig mit ihrem Alter und ihrem Gewicht, als sie schweißgebadet und mit biergetränkten Kleidern vor die Mikrofone gingen. Sowohl VfB-Sportdirektor Sven Mislintat als auch Trainer Pellegrino Matarazzo hatten unmittelbar nach dem erlösenden 2:1 durch Wataru Endo (90. + 2.) beeindruckende Spurts Richtung Eckfahne hingelegt. Dort, unmittelbar vor der Cannstatter Kurve, feierten sie zusammen mit Spielern und Maskottchen »Fritzle« in einem wilden Knäuel den Klassenerhalt.
Kurz darauf war Schluss und Zigtausende Fans stürmten den Rasen, den sie erst eine Stunde später verließen – viele von ihnen mit Original-Rasenstücken oder Fragmenten der beiden Tore, von denen eines komplett demontiert worden war. »Der kleine Dicke ist noch einigermaßen fit im Sprint«, freute sich der ganz in Schwarz gekleidete Mislintat, während »Rino« Matarazzo schon um 18.30 Uhr erste Ausfallerscheinungen zu Protokoll gab: »Ich habe einen Schädel nach all dem Geschrei und dem Jubel. Das war Ekstase, ein toller Moment. So etwas vergisst man nie.« Keine Frage: Die wohl emotionalsten Sinneseindrücke dieses 34. Spieltages lieferte der
Standort Stuttgart-Bad Cannstatt, wo der VfB nach allen Regeln der Kunst die Tatsache feierte, dass er doch noch Relegationsrang 16 mit Hertha BSC getauscht und so den direkten Klassenerhalt geschafft hatte.
Dabei hatte es noch kurz vor der Kollektiv-Ekstase im Schwäbischen so ausgesehen, als würden die 5000 Kölner Fans mit ihren Hohngesängen auf die vermeintliche Stuttgarter Zweitliga-Zukunft recht behalten. Denn während 450 Kilometer nordwestlich der BVB das Spiel gegen Berlin bereits gedreht hatte, sah es lange Zeit nicht mehr so aus, als könne der völlig entkräftete VfB nach dem Tor von Saša Kalajdžić (13.) und dem Ausgleich durch Anthony Modeste (59.) noch zum Siegtreffer kommen. Doch dann bekam der VfB in der Nachspielzeit doch noch einen Eckball zugesprochen. Den von Chris Führich getretenen Ball verlängerte Hiroki Ito auf den zweiten Pfosten, wo Endo freistand. Was folgte, war ein bebendes Stadion und ein akustisches Inferno, das Ohrenzeugen zufolge noch in vielen Kilometern Entfernung zu hören war. Der Torschütze übertrieb jedenfalls nur geringfügig, als er meinte, ein »explodierendes Stadion« erlebt zu haben.
Längst vergessen war zu diesem Zeitpunkt, dass der VfB das Spiel lange vorher hätte für sich entscheiden können, wenn er nicht – wie schon so oft in dieser Saison – so nachlässig mit seinen Chancen umgegangen wäre. Tiago Tomas (9.), Konstantinos Mavropanos (17.), Endo (32./35.) und Kalajdžić (21./53.) vergaben jedoch mal wieder beste Chancen, während VfB-Torwart Florian Müller beim Gegentreffer schwer patzte. Das Spiel, dieser Eindruck drängte sich auf, hätte durchaus auch mit einer Stuttgarter Niederlage enden können, wenn der FC in der ersten Halbzeit nicht so gespielt hätte, wie man vielleicht eben spielt, wenn auf der Anzeigentafel eine klare 2:0-Führung des größten Konkurrenten um Platz sechs, Union Berlin, aufleuchtet.
Mislintat jedenfalls lobte »Gruppendynamik, Spirit und Zusammenhalt«. Auch als man noch vier Punkte Rückstand auf den Relegationsplatz gehabt habe, habe man »nicht mit dem Finger auf andere gezeigt«. Trainerteam und Mannschaft hätten stattdessen »Zusammenhalt bewiesen« und seien »bei sich geblieben«. Bevor er dann eine »intensive Party« ankündigte, die dem Vernehmen nach tatsächlich bis weit in den Sonntag hineinreichte, bedankte sich Mislintat dann noch bei seinem einstigen Arbeitgeber Borussia Dortmund und dessen scheidendem Sportdirektor Michael Zorc für den Sieg gegen die Hertha. Er werde »Michael ein paar Maultaschen nach Dortmund schicken«, ließ er wissen. »Mal gucken, ob er die mag.« 1. Bundesliga, 34. Spieltag 2. Bundesliga, 34. Spieltag
»Das war Ekstase, ein toller Moment. So etwas vergisst man nie.«
Pellegrino Matarazzo
Trainer VfB Stuttgart
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3. Liga, 38. Spieltag SC Freiburg II - 1. FC Saarbrücken SC Verl - MSV Duisburg FSV Zwickau - Würzburger Kickers Hallescher FC - Wehen Wiesbaden Waldhof Mannheim - TSV Havelse 1860 München - Borussia Dortmund II Eintracht Braunschweig - Viktoria Köln Viktoria Berlin - SV Meppen VfL Osnabrück - 1. FC Magdeburg
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