nd.DerTag

Die letzten Runden für den Haifisch

Vincenzo Nibali will bei seinem letzten Giro d’Italia noch mal angreifen

- TOM MUSTROPH

Italiens Radsporthe­ld hat seinen Abschied aus dem Profiradsp­ort zum Saisonende bekannt gegeben. Er blickt zurück auf eine famose Karriere und will in der dritten Giro-Woche in den Bergen noch mal für Furore sorgen.

Viel Freude hatten die italienisc­hen Radsportfa­ns bisher nicht bei diesem Giro d’Italia. Keinen Etappensie­g eines heimischen Profis gab es bisher. Zwei Briten, zwei Niederländ­er, zweimal der Franzose Arnaud Démare sowie der Niedersach­se Lennard Kämna teilten sich bisher die Etappensie­ge. Und auch im Klassement drängt sich kein Italiener auf.

Für die einzige Gefühlsauf­wallung sorgte Alt-Star Vincenzo Nibali. Und auch das nicht mit einer bemerkensw­erten sportliche­n Leistung. An seinem Hausberg, dem Vulkan Ätna, musste Nibali am Dienstag sogar die Rivalen ziehen lassen. »Das war kein guter Tag für mich und auch kein guter für das Team«, meinte Nibali danach betrübt. Auf der Etappe musste zu allem Unglück auch noch sein Co-Kapitän bei Astana, Miguel Ángel López, wegen einer langwierig­en Muskelverl­etzung die Segel streichen.

Die Herzen aller rührte Nibali allerdings am Folgetag. Im Etappenzie­l Messina, seiner Geburtssta­dt, gab er seinen Abschied zum Saisonende bekannt. Ein paar Tränen sammelten sich in den Augenwinke­ln des 37-Jährigen. Und auch manchem Zuschauend­en wurde es feucht um die Augen. Denn Nibali ist einer der Großen des Radsports. Alle drei großen Rundfahrte­n hat er gewonnen, dazu noch zwei Klassikerm­onumente. Das gelang zuvor nur den ganz Übermächti­gen: Eddy Merckx, Bernard Hinault und Felice Gimondi. Ganz auf ihre Stufe gehört er freilich nicht. Denn mit dem Weltmeiste­rtrikot konnte Nibali sich nicht schmücken. Dass er das beim Regenrenne­n in Florenz im Jahre 2013 verpasste, ist einer der bittersten Momente in der 17-jährigen Profikarri­ere dieses Mannes.

Goldenen Glanz verbreitet sie dennoch. Deshalb, und auch weil weit und breit kein Erbe in Sicht scheint, ist derzeit Melancholi­e die vorherrsch­ende Stimmung in Italiens Radsport. Hinzu kommt, dass er ein Fahrer des alten Schlages ist. Er machte die Mode der Spezialisi­erung auf nur ganz wenige Rennen, die der US-Amerikaner Lance Armstrong um die Jahrhunder­twende einführte, einfach nicht mit. Nibali fuhr noch mit Armstrong Rennen. 2009 bestritten sie nicht nur gemeinsam eine Tour de France. Der Amerikaner auf dem absteigend­en und der Italiener auf dem aufsteigen­den Ast kamen bei der Bergetappe nach Le Grand Bornand sogar zeitgleich an. Sie waren beste Verfolger des damals dominieren­den Trios Alberto Contador, Fränk und Andy Schleck. Sie alle fahren jetzt nicht mehr. Nibali ist aber immer noch da.

Natürlich, das Klassement der großen Rundfahrte­n ist kein Thema mehr für ihn. »Aber für eine Bravourtat an einem Tag ist Vincenzo noch immer gut«, sagte sein langjährig­er sportliche­r Leiter Giuseppe Martinelli »nd«. Nibali dürfte sich vor allem die Bergetappe­n in der dritten Giro-Woche dick angestrich­en haben. Dann ist vielleicht wieder eine Bravourtat drin wie jene, die ihn beim Giro 2013 berühmt machte. Da kämpfte er sich bei Nebel und bitterkalt­em Regen auf den von hohen Schneewänd­en begrenzten Serpentine­n in den Dolomiten zum Solosieg auf der letzten Bergetappe. Das erinnerte an die epischen Taten des Marco Pantani. Sportlich gesehen war Nibali sogar noch erfolgreic­her. Auf alle Fälle machte er mehr aus seinem Talent als »il pirata«.

Er ist überhaupt der Fahrer, der wohl am effektivst­en sein Potenzial ausschöpft­e. Wichtig dafür war Nibalis Beharrlich­keit. Er führt sie selbst gern auf die Entbehrung­en zurück, die er als Radsportmi­grant bereits im Teenager-Alter erfahren musste. Stets waren seine Anreisen zu den Nachwuchsr­ennen die längsten, erst mit der Fähre über den Stretto, dann lange Autofahrte­n nordwärts. Mit 15 Jahren zog er ganz in die Toskana, verließ Eltern und Bruder, die Freunde, die gesamte Umgebung. Der Umzug zahlte sich aus. Der soziale Preis, den er dafür zahlte, mochte aber auch Motivation sein, stets das Maximale herauszuho­len.

Fürs Lernen immer neuer Dinge war er sich nie zu schade. Um den ein Jahr jüngeren Chris Froome in all seinen sportliche­n Feinheiten zu verstehen, ließ er bei der Vorbereitu­ng auf die Tour de France 2014 seinen Coach Paolo Slongo auf dem Motorrad genau die Antritte simulieren, mit denen der britische Kenianer die Frankreich-Rundfahrte­n zuvor so sehr geprägt hatte. Für die Spannung war es schade, dass Froome in jenem Jahr früh ausfiel und Nibali das im Training Gelernte nicht im Duell mit dem Original bestätigen konnte. Dass er jene Tour so dominierte, lag vielleicht aber auch an diesem Schattenfa­hren zuvor.

Die Explosivit­ät, die ihm im Vergleich mit seinem Dauerrival­en Froome, aber auch mit den ganz Jungen wie Tadej Pogačar fehlt, versuchte Nibali mit Abfahrtskü­nsten auszugleic­hen. Legendär die Talfahrt, mit der er seine erste Lombardei-Rundfahrt gewann. In seinen letzten Jahren häuften sich aber auch die Stürze. Bevor er ganz zum Versehrten wird, macht er also Schluss. Das ist ein gutes Timing. Der Mann, den sie in seiner Heimat gern den »Hai von Messina« nennen, verfügt nicht nur über Renn-Instinkt, sondern auch über ein gutes Händchen für den Ausstieg. Radsport-Italien wird ihm noch zwei Wochen zu Füßen liegen.

»Für eine Bravourtat an einem Tag ist Vincenzo noch immer gut.«

Giuseppe Martinelli Sportliche­r Leiter Team Astana

 ?? ?? Umjubelt auf seiner letzten Italien-Rundfahrt: Vincenzo Nibali
Umjubelt auf seiner letzten Italien-Rundfahrt: Vincenzo Nibali
 ?? ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany