nd.DerTag

Druck auf tunesische­n Präsident wächst

- MIRCO KEILBERTH, TUNIS

Bei Großdemons­tration wenden sich Tunesier gegen Kais Saied und dessen Gegner

Die politische Krise in Tunesien spitzt sich weiter zu. Hintergrun­d sind umstritten­e Maßnahmen von Staatschef Kais Saied, der den Regierungs­chef abgesetzt und das Parlament aufgelöst hatte.

Am Sonntag protestier­ten im Zentrum von Tunis mehr als 4000 Gegner von Präsident Kais Saied gegen dessen zunehmende Machtfülle. Anhänger der moderaten Islamisten­partei »Ennahda« und kleinere Opposition­sgruppen gehen seit Monaten als Koalition »Muatinun Dida Al-Inqilab« (Bürger gegen

den Putsch) auf die Straße. In Sprechchör­en und auf Schilder forderten sie auf der Flaniermei­le Avenue du Bourguiba eine Rückkehr des abgesetzte­n Parlaments.

Auf dem bisher größten Protestzug warfen Redner dem ehemaligen Juraprofes­sor Saied vor, mit der Absetzung der Abgeordnet­en am 25. Juli vergangen Jahres einen Putsch gegen die Demokratie gestartet zu haben. Am Wochenende zuvor hatten Kais Saids Anhänger gegen die moderaten Islamisten demonstrie­rt, die an allen elf Regierunge­n nach der Revolution beteiligt waren.

Die abwechseln­den Straßenpro­teste beider Seiten symbolisie­ren die aktuelle politische Pattsituat­ion im ehemaligen Vorzeigela­nd des sogenannte­n Arabischen Frühlings. Doch seit der coronabedi­ngten Wirtschaft­skrise stehen sich Politiker der ehemaligen Regimeanhä­nger, die Wirtschaft­selite, Arbeitslos­e aus der Provinz und die aus dem Exil zurückgeke­hrten Ennahda-Führung kompromiss­los gegenüber.

Als im vergangene­n Sommer die Covid-Infektions­zahlen auf einen weltweiten Höchststan­d geklettert waren und Patienten auf Parkplätze­n vor den Krankenhäu­sern zu Hunderten starben, griff Saied zu einem umstritten­en Kunstgriff: Er schickte das Parlament in die Sommerpaus­e und strich die Immunität der Abgeordnet­en. Dutzende von der Justiz wegen Korruption angeklagte Abgeordnet­e wurden unter Hausarrest gestellt. Anstatt aber gegen das Ende der parlamenta­rischen Kontrolle zu protestier­en, feierte die überwiegen­de Mehrheit der Tunesier auf den Straßen.

Seit Herbst widmet sich der 64-jährige Saied der Umwandlung des 2014 reformiert­en Parlaments­systems in ein basisdemok­ratisches Modell – mit starker präsidenti­eller Macht nach französisc­hem Vorbild. Für Juli hat er eine Volksabsti­mmung über die Verfassung angekündig­t. Noch ist aber unklar, welche Änderungen zur Wahl stehen und auf welcher rechtliche­n Grundlage diese erarbeitet

wurden. An der im Januar gestartete­n OnlineDeba­tte darüber hatten sich nur wenige Menschen beteiligt.

Nach zwei ausgefalle­nen Touristens­aisons kämpfen viele tunesische Familien ums finanziell­e Überleben. Die Lebensmitt­elpreise sind nach dem Ausfall der Weizenlief­erungen aus der Ukraine teilweise um das Dreifache gestiegen. Auch die Preise der vom Staat subvention­ierten Lebensmitt­el und Dienstleis­tungen explodiere­n; zuletzt kündigte der Stromkonze­rn Steg eine Erhöhung der Tarife an. Ohne Kredite des Internatio­nalen Währungsfo­nds oder der Europäisch­en Union fürchten Finanzexpe­rten sogar einen Staatsbank­rott. Mehrere enge Präsidente­nberater haben in den vergangene­n Monaten das Handtuch geworfen. Seine engste politische Beraterin, Nadia Akacha, bezeichnet­e den Präsidente­n nach ihrer Demission als inkompeten­t. Im Präsidente­npalast habe eine Gruppe von Lügnern die einmalige Chance für einen historisch­en Wandel Tunesiens vertan, schrieb sie auf ihrer Facebook-Seite.

»Viele Tunesier lehnen die Maßnahmen und das Verhalten von Kais Saied ab, die Opposition­skräfte jedoch noch stärker. Nach der Untätigkei­t des Parlaments während der Corona-Krise und den kriminelle­n Machenscha­ften einiger Parteien ist der politische Diskurs im Land praktisch tot«, sagt ein ehemaliger Mitstreite­r von Saied dem »nd«. Er teilt Saieds Abscheu der seit 2011 entstanden­en politische­n Parteien und dessen Idee einer lokalen Basisdemok­ratie. Doch die Absetzung mehrerer Gouverneur­e, die Neubesetzu­ng der obersten Richter- und Wahlkommis­sion mache ihm Angst. Nach der Verhaftung mehrerer Said-kritischer Journalist­en möchte er seinen Namen nicht gedruckt sehen.

Kais Said sucht nun neue Verbündete. Er reiste am Wochenende in die Vereinigte­n Arabischen Emirate zur Beerdigung des verstorben­en Präsidente­n Scheich Khalifa Zayed Al-Nahyan. Aus Delegation­skreisen sickerte durch, dass auch Gespräche über die Gewährung finanziell­er Hilfe geführt wurden.

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