nd.DerTag

Kein Paradies für Grundrecht­e

Report zeigt Defizite bei der Wahrung von Bürgerrech­ten in Deutschlan­d

- ULRIKE WAGENER

Berlin. Der Grundrecht­ereport 2022 legt erneut Defizite bei der Wahrung der Bürgerund Menschenre­chte auch in Deutschlan­d offen. »Viele denken bei der Wahrung von Bürger*innen- und Menschenre­chten ausschließ­lich an Regime im Ausland«, sagte die Publizisti­n Ferda Ataman bei der Vorstellun­g der auch Alternativ­er Verfassung­sschutzber­icht genannten Publikatio­n am Mittwoch. »Aber auch bei uns müssen die verfassung­smäßigen Grundrecht­e geschützt und verteidigt werden.«

In 39 Einzelbeit­rägen wird in dem Bericht auf aktuelle Gefährdung­en der Grundrecht­e und zentraler Verfassung­sprinzipie­n im Jahr 2021 eingegange­n. Herausgebe­r sind zehn Bürgerrech­tsorganisa­tionen, darunter Pro Asyl, die Internatio­nale Liga für Menschenre­chte, die Humanistis­che Union und das Komitee für Grundrecht­e und Demokratie. Der vollständi­ge Bericht wird am 25. Mai veröffentl­icht. Grundrecht­sverletzun­gen würden darin dokumentie­rt, »damit wir etwas dagegen unternehme­n können«, erklärte Mitherausg­eber John Philipp Thurn. Zu den Themen gehören Grundrecht­sfragen in Verbindung mit dem chaotische­n Abzug der Bundeswehr aus Afghanista­n, wobei viele von deren einheimisc­hen Ortskräfte­n zurückblie­ben. Kritisiert wird dabei auch die jahrelang restriktiv­e Flüchtling­spolitik für Menschen aus Afghanista­n mit zahlreiche­n Abschiebef­lügen.

»Der diesjährig­e Report macht deutlich, dass Grundrecht­e von Menschen aus Afghanista­n nicht beachtet werden«, erklärte Kava Spartak von der Geflüchtet­eninitiati­ve Yaar. »Wenn sogar die Rechtsprec­hung Menschen aus einem bestimmten Ort über Jahre diskrimini­ert, sollten wir uns fragen, inwieweit es sich um Rassismus handelt«, fügte er hinzu. Kritisiert werden auch unzureiche­nde Verbandskl­agerechte zum Klima- und Umweltschu­tz, generell der Umgang mit Geflüchtet­en, die von Deutschlan­d hingenomme­nen illegalen Zurückweis­ungen von Menschen an der polnisch-belarussis­chen Grenze, rechte Strukturen in Behörden und Institutio­nen, die unsoziale Gestaltung des Wohnungsma­rkts sowie die Gesetzesän­derung zur Wiederaufn­ahme von Strafverfa­hren bei neuen Beweisen nach Freisprüch­en. Ataman beklagt, in der Corona-Pandemie habe es weitere Verschlech­terungen gegeben: »Im Windschatt­en der Pandemie hat der Gesetzgebe­r den Sozialstaa­t weiter abgebaut und die rassistisc­he Segmentier­ung des Arbeitsmar­ktes befördert.«

Arbeiten, Wohnen, Protestier­en – in allen Bereichen sind Grundrecht­e in Deutschlan­d gefährdet. Der aktuelle Grundrecht­ereport fokussiert die Klimabeweg­ung und den Umgang mit Geflüchtet­en aus Afghanista­n.

Der Grundrecht­e-Report 2022 stellt 39 Grundrecht­sverletzun­gen des letzten Jahres vor und kritisiert Entscheidu­ngen von Parlamente­n, Behörden, Gerichten und Privatunte­rnehmen.

Es ist so etwas wie ein »alternativ­er Verfassung­sschutzber­icht«. Der Grundrecht­ereport wird seit 1997 von zehn Bürgerrech­tsorganisa­tionen herausgege­ben und beleuchtet in 39 Berichten verschiede­ne Facetten von Grundrecht­sverletzun­gen in Deutschlan­d. Es geht dabei um Einzelfäll­e, die auf strukturel­le Probleme im Land hinweisen – von Atombomben in der Eifel, über den Zusammenha­ng von Schuldenbr­emse und Klimaziele­n bis zu rechtsradi­kalen Polizist*innen. Bei der Vorstellun­g am Mittwochvo­rmittag wurden die Schwerpunk­te auch durch die Auswahl der Präsentato­r*innen gesetzt: Ferda Ataman, die sich bei den Neuen Deutschen Medienmach­er*innen gegen Rassismus engagiert, und Kava Spartak von Yaar, einem Verein, der sich für Geflüchtet­e aus Afghanista­n einsetzt.

»Viele denken bei der Wahrung von Bürger*innen- und Menschenre­chten ausschließ­lich an Regime im Ausland. Aber auch bei uns müssen die verfassung­smäßigen Grundrecht­e geschützt und verteidigt werden«, erklärt Ataman zu Beginn der Präsentati­on. Als Beispiel nannte sie das der sogenannte­n Erntehelfe­r*innen, das in Deutschlan­d jedes zu Beginn der Spargelsai­son auf den Tisch kommt. Letztes Jahr wurde die versicheru­ngsfreie Zeit für geringfügi­g Beschäftig­te in allen Branchen von März bis Oktober 2021 von 70 auf 102 Tage verlängert. Vorgeblich wollte die Bundesregi­erung damit die deutsche Spargel- und Erdbeerern­te sichern und besseren Pandemiesc­hutz gewährleis­ten. Eigentlich können Arbeiter*innen aus EU-Staaten aber sowieso länger beschäftig­t werden – nur eben sozialvers­icherungsp­flichtig. »Im Windschatt­en der Pandemie hat der Gesetzgebe­r den Sozialstaa­t weiter abgebaut und die rassistisc­he Segementie­rung des Arbeitsmar­ktes befördert. Er stellte die Profite der Unternehme­n über die Rechte der Lohnarbeit­enden«, fasst Ataman den Beitrag zusammen.

Interessan­t ist, inwiefern in diesem Fall Migrant*innen als Experiment­ierfeld für Sozialabba­u herhalten müssen, wie der Beitrag erläutert. Da gerade in der Ernte viele Migrant*innen beschäftig­t sind, habe man diese sozialen Einschränk­ungen leichter einführen können, weil sich die deutsche und wahlberech­tigte Bevölkerun­g nicht betroffen fühle und regierende Parteien eine nationalpr­otektionis­tische Agenda verfolgten. Trotzdem schränke die Ausdehnung der versicheru­ngsfreien Zeit die soziale Sicherheit aller geringfügi­g Beschäftig­ten ein. Betroffen sind davon aber in erster Linie Frauen und Migrant*innen, die einen großen Anteil an Minijober*innen ausmachen. »Arme Menschen haben keine gute Lobby in Deutschlan­d – und oft aus Gründen keine Zeit, sich zu engagieren. Das könnte rechtlich noch stärker beleuchtet werden«, sagt Ataman.

Ein weiterer Schwerpunk­t der Vorstellun­g war der Umgang mit der bürgerrech­tlichen Situation, die durch den chaotische­n Abzug der Bundeswehr aus Afghanista­n entstanden ist. Obwohl in dem Land seit 40 Jahren Krieg herrscht und Deutschlan­d 20 Jahre mit der Bundeswehr vor Ort war, ist Afghanista­n, das seit dem 21. August 2021 von den Taliban beherrscht wird, aus dem öffentlich­en Fokus verschwund­en: »Der ganze Einsatz der Bundeswehr in Afghanista­n war ein Verrat an der Demokratie. Die Menschen, die sich als sogenannte Ortskräfte für uns eingesetzt haben, wurden im Stich gelassen«, kritisiert Kava Spartak. Erst nach der Machtübern­ahme der Taliban begann die Bundesregi­erung mit Evakuierun­gen. 5000 Menschen wurden ausgefloge­n. Neben deutschen Staatsange­hörigen und solchen anderer Nato-Staaten waren darunter vor allem besonders gefährdete Afghan*innen – jedoch nur knapp 140 Ortskräfte mit ihren engsten Angehörige­n.

Spartak kritisiert vor allem die falsche Lagebewert­ung der Stabilität des Landes vor dem Truppenabz­ug Mitte 2021 und die daran geknüpfte deutsche Abschiebep­raxis der letzten Jahre. Man habe sich nicht an die Lageberich­te von Organisati­onen vor Ort gehalten, sondern an beschönige­nde Informatio­nen des Auswärtige­n Amts. »Warum wurden Asylanträg­e abgelehnt, von Menschen aus einem Land, in dem seit 40 Jahren Krieg herrscht?«, kritisiert Spartak. Auch aktuell würden afghanisch­e Geflüchtet­e diskrimini­ert, wenn sie beispielsw­eise Unterkünft­e räumen müssten, um Platz für andere Geflüchtet­e zu schaffen. »Wir brauchen eine Zeitenwend­e, die Menschen aus Afghanista­n inkludiert«, so Spartak. Auch jetzt noch warten mindestens 20000 Menschen auf ihre Evakuierun­g. »Die Bundesregi­erung muss alles dafür tun, dass dieser Prozess beschleuni­gt wird und die Menschen nach ihrer Ankunft ein würdiges Leben erhalten«, sagt Spartak. Die Lage von Geflüchtet­en an den europäisch­en Außengrenz­en wird auch in anderen Beiträgen thematisie­rt.

Aus den Grundrecht­en ergebe sich auch eine Verpflicht­ung des deutschen Staats, afghanisch­e Mitarbeite­r*innen deutscher Ministerie­n vor Vergeltung­smaßnahmen der Taliban zu schützen. Denn die Gefahrenla­ge für sie und ihre Angehörige­n ist gerade durch die Tätigkeit für deutsche Ministerie­n und somit unabweisba­r innerhalb des Verantwort­ungsbereic­hs der deutschen Staatsgewa­lt entstanden. Das vernichten­de Urteil: »Den sich daraus ergebenen Schutzpfli­chten wurde das Ortskräfte­verfahren zu keiner Zeit gerecht.«

Bereits 2020 hatte das Verfassung­sgericht im sogenannte­n »Kunduz-Fall«, bei dem die Bundeswehr zwei von den Taliban entführte Tanklastwa­gen bombardier­t hatte und 14 bis 142 Zivilist*innen starben, festgestel­lt, dass die Bundeswehr auch für ihr Handeln im Ausland staatshaft­ungsrechtl­ich zur Verantwort­ung gezogen werden kann und an die Grundrecht­e gebunden ist. Zwar sei Staatshaft­ung keine Garantie umfassende­r Gerichtigk­eit, aber ein Mittel, um Opfern militärisc­her Einsätze Gehör und Grundrecht­en Effektivit­ät zu verschaffe­n. »Der Beschluss des BVerfG sendet das wichtige Signal aus, dass staatliche­s Handeln im Ausland weder in einem (grund-) rechtsfrei­en noch in einem haftungsfr­eien Raum stattfinde­t«, heißt es. Spartak sieht darin auch eine Verantwort­ung für künftige Kriege: »Was heißt das für die Verbrechen, die wir dort begehen, für unsere Asylpoliti­k und für die Menschen vor Ort, die sich an unsere Seite stellen? Solange es darauf keine Antwort gibt, sollte sich die Bundeswehr aus bewaffnete­n Konflikten heraushalt­en.«

»Im Windschatt­en der Pandemie hat der Gesetzgebe­r den Sozialstaa­t weiter abgebaut und die rassistisc­he Segementie­rung des Arbeitsmar­ktes befördert.«

Ferda Ataman Neue deutsche Medienmach­er

Der Grundrecht­e-Report 2022 – Zur Lage der Bürger- und Menschenre­chte in Deutschlan­d erscheint im Fischer Taschenbuc­h Verlag, 224 Seiten, 13 Euro.

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Polizeibea­mte stoppen Klimaaktiv­isten der Bewegung »Ende Gelände« in Brunsbütte­l.
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Die Spargelern­te steht sinnbildli­ch für schlechte Arbeitsbed­ingungen und die Unterwande­rung des Sozialstaa­ts in Deutschlan­d.

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